Wer küßt Kaliningrad wach?

In der „Freien Wirtschaftszone“ träumt man von einem Hongkong am Pregel – und handelt einstweilen mit Wanduhren und Goldhäschen  ■ Aus Kaliningrad Anita Kugler

Neben den in Stein gefaßten überlebensgroßen Fotos der Sieger von Königsberg 1945, auf dem Wassilewsky Platz, liegt unter einem Strauch ein Mann. Er ist tot, erfroren bei 10 Grad minus. Die vorbeieilenden Menschen sehen ihn, niemand ruft die Ambulanz. In Sichtweite winkt ein Polizist vorbeifahrende Autos an den Straßenrand. Verkehrskontrolle, der Tote interessiert ihn nicht. Am Abend ist der Mann weggeräumt, spurlos, frischer Schnee ist gefallen. Die Stadtverwaltung schätzt die Zahl der Obdachlosen auf etwa 1.000 Menschen. Kaliningrad im Januar 1995.

Der Oblast (vergleichbar einem Bundesland, die Red.) Kaliningrad will freie Wirtschaftszone sein. Auf dem Papier ist sie es auch seit September 1991. Damals präzisierte der Ministerrat der Russischen Föderation die Grundsätze der FWZ und legte die ökonomischen Ziele für die, von Polen und Litauen umgrenzte Exklave fest. Kaliningrad ist 500 Kilometer von Berlin entfernt und 1.200 Kilometer von Moskau. In diesem Osten ist der Westen nah, ausländische Investoren sollen deshalb kommen, steuererleichtert wirtschaften, aus dem verrotteten Land ein blühendes Hongkong machen. Das sind die Träume. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus, das Land verkommt, steuert dem Bankrott zu. Bis heute sind die Rahmenbestimmungen, um aus der „Freie Wirtschaftszone Jantar (Bernstein)“ wirklich eine freie Zone zu machen, nicht erlassen. Kaliningrad wird von Moskau an der kurzen Leine gehalten. Statt Wirtschaftsautonomie, immer noch Zentralplanung, statt Steuererleichterungen eine absurde Bürokratie, statt Investitionen in die Infrastruktur, Mängelwirtschaft.

Die klaftertiefen Löcher auf der Hauptverkehrsstraße zum Frachthafen schaufeln Frauen mit Sand provisorisch zu. An ihnen haarscharf vorbei donnern stinkende Diesellaster. Ihr Lohn beträgt 120.000 Rubel, das sind etwa 50 Mark. Weil die Stadt pleite ist, werden im Januar aber erst die Oktoberlöhne ausgezahlt. Das amtliche Existenzminimum beziffert der Oblast derzeit mit 95.000 Rubel. Mindestens zehn Prozent aller Kaliningrader leben unter dieser Armutsgrenze, behauptet der Königsberger Express, die einzige deutschsprachige Monatszeitschrift im Gebiet.

Gennady Fjodorov, Professor für Wirtschaftsgeographie und Rektor der Kaliningrader Staatsuniversität befürchtet, daß die Region vollends zum Hinterhof wird, wenn Moskau nicht bald das Gesetz „Über den Sonderstatus des Gebiets Kaliningrad“ erläßt. An diesem Gesetz hat er als Deputierter der Reformpartei für den „Gebietssowjet“ drei Jahre lang gearbeitet. Höchst unzufrieden ist Fjodorov auch mit den Kapitalisten des Westens. Zwar gebe es insgesamt 633 Joint–ventures mit ausländischen Partnern, 253 davon mit 100prozentigem Auslandskapital, „aber das Volumen der in Kaliningrad investierten Geldmittel ist mit 21 Milliarden Rubel minimal“. Und die russischen Banken würden ihr Geld in Valuta umrubeln und aus dem Land transferieren. 1994 seien das 30 Millionen US-Dollars gewesen, also etwa 110 Milliarden Rubel. Gennady Fjodorov wirkt wie ein Politkommissar und redet wie ein in der Wolle gefärbter Marktwirtschaftler.

Statt Aufbruch ist überall im Oblast Stagnation zu sehen. Ohne die tapferen Frauen, die es irgendwie schaffen dem Niedergang einen Widerstand entgegenzusetzen, wäre die Region ein einziger Albtraum. Dabei hat die Entlassungswelle noch nicht einmal richtig begonnen. Die Gebietsverwaltung schätzt, daß durch den bevorstehenden Zusammenbruch der industriellen Kombinate 300.000 von insgesamt 450.000 Arbeitsplätze wegfallen. Im Januar erhielten die 2.000 Arbeiterinnen der ehemaligen Munitionsfabrik Quarz, die heute dank Beratung durch die deutsche Treuhand, zwei Tage die Woche mit Konversionsproduktion beschäftigt ist, statt Rubel elektrische Wanduhren. Auf dem Zentralmarkt von Kaliningrad fiel der Preis der elektrischen Wanduhren wegen Überangebots in den Keller. Jetzt fahren die Frauen nach Polen, um dort die monströsen Dinger gegen Autobatterien umzutauschen. Die werden dann auf den Schwarzmarktständen rund um den Basar verkauft. Für die mühsam verdienten Rubelchen können sie dann am gleichen Ort dänische Butter, holländische Tomaten, Kartoffeln aus Litauen und EG-genormte und eingeschweißte Gurken erwerben.

Von Alternativen ist nichts zu sehen. Die einheimische landwirtschaftliche Produktion liegt am Boden. Erst kurz vor Weihnachten machte die Zentralmolkerei von Kaliningrad pleite. 41.000 der insgesamt 59.000 im Oblast herumstehenden Kolchoskühe seien geschlachtet worden, meldete die Kaliningradskij Prawda. Das Fleisch sei irgendwo gelandet, nur nicht in den immer noch staatlichen Lebensmittelläden. Mindestens 15 Jahre wird es dauern, bis der Muttertierbestand wieder aufgefrischt ist. Geschlossen ist seit ein paar Tagen auch die letzte der verbliebenen Geflügelfabriken und das Fischereikombinat. Private Betriebe entstehen zwar, vor allem nahe der Grenze zu Litauen, aber ihre Produkte sind zu teuer. Für jeden verdienten Rubel müssen 92 Kopeken an Steuern gezahlt werden. Da verkaufen die Bäuerinnen die Butter doch lieber schwarz in Litauen. Auf dem Markt ist die einheimische, in kleinen Betrieben selbst gerührte Ware fast doppelt so teuer wie die abgepackten Halbpfundquader aus dem EG-Butterberg, die von merkwürdigen dänischen und niederländischen Joint–ventures ins Land gekarrt werden.

Jürgen Schröder, deutscher Unternehmensberater aus West-Berlin und seit 1990 in Kaliningrad vor Ort, hält diese ganze Entwicklung zum Dritt-Welt-Land für „puren Wahnsinn“. Aber er wäre kein Unternehmensberater, wenn er nicht ebenfalls mit Schrecken sehen würde, daß die Deutschen diesen Verteilungskampf um den russischen Markt in Kaliningrad verschlafen. „Vor lauter Angst, daß ihnen der Vorwurf der Re-Germanisierung gemacht werden könnte, sitzen die auf den Ohren“. Das dicke Geschäft im Lebensmittelhandel werden deshalb die Holländer machen, glaubt er. So sei in Amsterdam eben eine russische Bank gegründet worden, Voraussetzung für einen erleichterten Zahlungsverkehr. Diese Bank werde die bisher üblichen Kompensationsgeschäfte ablösen, denn „außer dem Wodka Stolichnaya hat der Oblast Kaliningrad doch nichts mehr zu bieten“, sagt Schröder.

Im vergangenen Jahr fiel er selbst mit einem Kompensationsgeschäft grandios auf die Nase. Kurz nach dem deutschen Osterfest hatte Schröder zusammen mit dem israelischen Glücksritter Meir Mendelsohn 66.000 Paletten Schokoladengoldhäschen der Marke Lindt preisgünstig aufgekauft. Die Häschen wollten die beiden über eine russische Firma zum russisch-orthodoxen Osterfest an Frau und Kinder bringen, also zwei Wochen später. Weil Schokoladenhasen aber in Russland eine sehr fremde Sitte sind, kam das große Geschäft nie zustande. Solche Geschäfte gibt es viele.

Immerhin rudimentäre marktwirtschaftliche Strukturen will die Handelskammer Hamburg in Kaliningrad mitorganisieren helfen. Geleitet wird das erst kürzlich eröffnete und hübsch renovierte Büro in einem alten deutschen Villenvorort von Thomas Hendel. Er ist ein freundlicher und sehr junger Mann. Kein kühler, hanseatischer Kapitalist. Studiert hat der Diplomatensohn in Moskau und zwar zu sowjetischen Zeiten. Das ist eine gute Voraussetzung, um in Kaliningrad nicht unterzugehen. Zum 11. Januar lädt er die in der Stadt arbeitenden Geschäftsführer deutscher Firmen zur Gründung eines „Wirtschaftskreises Kaliningrad“ ein. Es gibt zwar 187 deutsch-russische Joint–ventures, aber nur 23 Unternehmen haben auch einen Geschäftsführer vor Ort. Von ihnen kommen an diesem Abend 15. Die erfolgreichsten Firmen, wie Löschei-Müllentsorgung, Holsten- Bier, sind nicht vertreten, dafür mehrere Unternehmensberater wie der witzige Schröder. Leute also, die noch suchen und denen man alles mögliche vorwerfen könnte, bloß nicht, daß sie das Land mit deutschem Kapital re- germanisieren. Das haben sie nämlich nicht. Alle deutschen Joint- ventures zusammen verfügen über ein Gründungskapital von vier Milliarden Rubel, das ist eine Milliarde Rubel weniger als Frankreich in nur fünf Joint–ventures investiert hat.

Mindestens die Hälfte der Anwesenden stammen aus der ehemaligen DDR. Es muß für sie ein gutes Gefühl sein, hier im Osten ein Westler zu sein. Bernd Stobbe, 51 Jahre, gibt das auch lachend zu. Bis zur Wende unterrichtete der habilitierte Historiker an der Parteihochschule in Berlin die „Geschichte der KPDSU“. Dann verkaufte er aus dem Bauchladen Haarspangen – um endlich in Kaliningrad eine Symbiose von Marktwirtschaft und Lehrtätigkeit einzugehen. In der Nähe des früheren, gesprengten Schloßes, dort wo seit den siebziger Jahren die häßlichste Bauruine der Welt, das „Haus der Räte“ steht, hat er ein „Russisch- Deutsches Bildungs-und Servicezentrum“ gegründet. Seit Januar 1994 wird dort im Sprachlabor „Deutsch für Anfänger“ gelehrt, die Fünf-Monats Kurse sind schon im voraus ausgebucht. Außerdem bietet er in Zusammenarbeit mit dem Kaliningrader Arbeitsamt Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen zu Buchhaltern, Wirtschafts-und Steuerprüfern an. Das ist eine optimistische Investition in die Zukunft, die vielleicht auch irgendwann einmal in Kaliningrad beginnt.

„Mein halbes Leben habe ich mich theoretisch mit dem Kapitalismus beschäftigt, ihn praktisch auszuprobieren, macht höllisch Spaß“, sagt Bernd Stobbe. Der Mann platzt schier vor Vitalität. 14 russische Angestellte hat er heute, und das Unternehmen genießt in Kaliningrad einen sehr guten Ruf. Demnächst wird er auch für die „Gesellschaft für technische Zusammenarbeit“ (GTZ) Kurse im „Deutsch-Russischen Haus“ anbieten. Das ist ein Joint-venture des Bundesinnenministeriums mit der „Stiftung Königsberg“ und wird ebenfalls von einem Ex- DDRler geleitet. Von Friedemann Höcker, früher Diplomat irgendwo im Westen. Und aus der DDR stammt auch der einzige Deutsche, der bei der Gebietsverwaltung als Berater arbeitet, Peter Müller. Im Auftrag des Bundesumweltministeriums soll er den Umweltschutz im Oblast auf Vordermann bringen, eine Sisyphusarbeit. Von allen Ex-DDRlern ist er der einzige, bei dem man das frühere Parteibuch förmlich riecht. Klar, daß Ostdeutsche in Kaliningrad erhebliche Vorteile haben: Russischkenntnisse, die Hierachie in der Bürokratie, das Parteisowjetisch, all das kennen sie aus dem Effeff.

Der wahre deutsche Geldadel ist in Kaliningrad jedenfalls nicht zu sehen. Mercedes-Benz kündigte einen Vorvertrag, weil das Gebiet keine Investitionsgarantien übernehmen konnte. Die Renovierung des gesamten Telefonnetzes übernahm eine französische Firma, weil Siemens sich zu lange zierte. Jetzt hofft Vasily Britan, Hauptarchitekt von Kaliningrad – vergleichbar mit dem Posten eines Bausenators –, daß die Deutschen wenigstens bei der internationalen Ausschreibung zur Umgestaltung des Stadtzentrums aufwachen. Das Monstrum „Haus der Räte“ steht bereit, um in ein Business-Zentrum verwandelt zu werden. „Der Prinz mußte sich auch erst durch Gestrüpp schlagen, um Dornröschen wachküssen zu können“, agitiert er sich in Optimismus. Kaliningrad ein Dornröschen. Darauf muß man erst mal kommen.