Größere Scheine, kleinere Brötchen

■ Türkei verzeichnet Rekord-Inflation von 149,6 Prozent / Regierung Çiller vertraut für 95 auf Erlös aus Privatisierungen

Istanbul (taz) – Mitte Januar brachte die türkische Zentralbank neue Banknoten in Umlauf. Und prompt bildeten die neuen Scheine Anlaß, über Ministerpräsidentin Çiller zu spotten: Eine Million Türkische Lira (TL) steht drauf – bis dahin war die höchste Denomination 500.000 TL. Nun hatte die Koalitionsregierung in Ankara noch vor einem halben Jahr versprochen, die Inflation drastisch zu senken. Die wollte aber partout nicht runter. Im Gegenteil: Mit einer Inflationsrate von 149,6 Prozent im vergangen Jahr (1993: zirka 60 Prozent) hat sie in der Geschichte der türkischen Republik eine traurige Rekordmarke erreicht.

„Befinden wir uns etwa im Krieg?“ fragt das Wirtschaftsmagazin Iktisat Dergisi. Selbst während des Zweiten Weltkriegs wurden nicht so hohe Inflationsraten verzeichnet. Oppositionsführer Mesut Yilmaz von der „Mutterlandspartei“ spricht von einer Katastrophe. Der „Lügen-Champion“, so seine Bezeichnung für die türkische Ministerpräsidentin, müsse zurücktreten. Die „Mutterlandspartei“ organisiert zur Zeit regelmäßig Kundgebungen, bei denen Frauen durch die Straßen ziehen und, mit Kochtöpfen laut trommelnd, ihren Protest kundtun.

Tatsächlich sind die Reallöhne innerhalb eines Jahres um 40 Prozent gesunken. Die inflationäre Entwicklung hat die Kaufkraft der abhängig Beschäftigten buchstäblich aufgefressen. Dabei hatte Tansu Çiller im April 94 mit dem heiligen Versprechen, die Inflation zu bändigen, ein Austeritätspaket verkündet. Die Defizite des Staatshaushaltes und das Außenhandelsdefizit sollten mit dem Paket abgefangen werden. Das Austeritätspaket, das mit einer radikalen Abwertung der türkischen Lira eingeleitet wurde, zielte darauf ab, die Binnennachfrage, Wachstum und Produktion zu drosseln und die türkische Wirtschaft auf den Export zu trimmen.

„Schnallt den Gürtel enger, damit wir die Inflation in den Griff kriegen!“ lautete die Devise, „die Türkei im Aufbruch“ und „nationale Offensive“ waren die Schlagworte, die von den Medien immer wieder strapaziert wurden. Tatsächlich schaffte es die Regierung Çiller, daß trotz der Verarmung Arbeiter, Angestellte und Beamte kaum nennenswerten Widerstand leisteten; in den staatlichen Betrieben wurden selbst Tarifvereinbarungen von seiten der Regierung nicht eingehalten. Wurden im Sommer und Herbst vergangenen Jahres, also kurze Zeit nach Verkündung des Maßnahmenpakets, noch relativ geringe Teuerungsraten verzeichnet, so schnellte in der zweiten Jahreshälfte 1994 die Inflation wieder in die Höhe.

Türkische Wirtschaftsexperten machen mehrheitlich düstere Prognosen. Die Rückzahlung von 11 Millarden US-Dollar Auslandsschulden steht in diesem Jahr an, und es ist angesichts der Tatsache, daß internationale Rating-Institutionen die Kreditwürdigkeit der Türkei anzweifeln, nicht anzunehmen, daß die Türkei in diesem Jahr neue Schulden wird aufnehmen können. Nur durch eine Hochzinspolitik kann die Regierung den Wechselkurs der Türkischen Lira halten.

Erfolgreich war das im April 94 geschnürte Maßnahmenpaket lediglich bei der Senkung der Löhne der staatlichen Angestellten und Beamten. Eine strukturelle Reform jedoch blieb aus. Einer der Gründe ist zweifellos, daß die türkische Regierung jede politische Lösung des Kurdistan-Konflikts ablehnt. Ein Minister schätzte, daß Ankara jährlich rund sieben Milliarden US-Dollar für den Krieg in den kurdischen Regionen ausgibt. Nach dem Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission werden fünf Prozent des Bruttosozialprodukts für „Terrorismusbekämpfung“ aufgewendet.

Auch an eine Reform des anachronistischen Steuersystems traut sich die Regierung Çiller nicht heran. Dreißig Prozent der staatlichen Einnahmen werden durch die Einkommensteuer bestritten. Mit gerade mal fünf Prozent tragen die Unternehmen zu den staatlichen Einnahmen bei – ein Anteil, der von Jahr zu Jahr sinkt.

Die Regierung Çiller vertraut ganz auf die Erlöse aus der Privatisierung von Staatsunternehmen, um das Jahr 1995 über die Runden zu bringen. Vor zwei Monaten hatte das türkische Parlament ein Privatisierungsgesetz verabschiedet. Sollten aber die Erlöse aus dem Ausverkauf der staatlichen Unternehmen ausbleiben, ist wohl erneut mit einem Austeritätspaket zu rechnen. Ömer Erzeren