...total in die Irre geführt...

■ Berichte aus dem „Irrturm“ über Geheimpolizisten, seltsame Reisen und das Singen in der Folterzelle

Rotterdam 1993. Diese Geheimpolizei in Rotterdam immer. Diese tote Stadt diente der Geheimpolizei dazu, mir zu suggerieren, ich existiere nicht. Aber Birgit Raschdorf existiert.

Eine Reise nach Rotterdam. Natürlich war die Grundvoraussetzung, daß sie in den Papierkorb im Gare du Nord von Bruxelles ihren Schwerbehindertenausweis warf. In Rotterdam weg mit den orthopädischen Sandalen. Die Geheimpolizei entwendete den Rest Geld, die Papiere. Sie ließ Birgit auch nicht mehr nach Deutschland zurück. Zu Fuß nach Bremen! Ich wurde total in die Irre geführt. Der Astronautenanzug wurde zu warm, weg damit, weiter in Slip und T-Shirt. Der Boden der toten Stadt war vergiftet. Ich begann, Hollandfahrräder umzukippen. Empörte Geheimpolizisten. Ich existiere, also existiert ihr nicht. Zelle. Dusche. Man fragte mich nach meinem Namen, worauf ich mein Gesicht versteinerte. In der Folterzelle war es ekelhaft, aber ich entdeckte dadurch, daß ich eine großartige Mezzosopranstimme habe.

Birgit Raschdorf hat ein fast liebevolles Verhältnis zu ihren Wanderungen unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Während ihrer psychotischen Schübe ist sie meist in der Lage, mit einem Stückchen ihres Bewußtseins wachzubleiben, so daß ein Rückweg jederzeit möglich ist. Außer in Rotterdam, wo sie im Psychiatriezentrum „Joris“ landete. Ihr Resumee: Ohne diese Wanderungen wäre ich ärmer, sie bereichern mein Leben und zeigen mir mehr, als ich mit dem Wachbewußtsein erreichen kann.

Wie Psychiatriepatienten und solche, die es waren, selbst mit ihren Problemen umgehen, ist Gegenstand des neuen Irrtu(r)m (*). Voller Empörung sind manche Berichte von langjähriger Unterdrückung, endloser Zwangsmedikation, körperlicher Gewalterfahrung. Beschwörende Texte, vielleicht erleichtern sie. Andere wie der Bericht von Christina von Lichtenstein, die von einem Teufel namens Poldi von Hohenzollern verfolgt wird, scheinen Rekonstruktionsversuche der um ihre Biographie Betrogenen zu sein. Und dann gibt so luzide Reiseberichte wie den von Gisela Meyer, der Blaumeier-Diva.

Gisela Meyer führt sich als Erfahrene in Psychosefragen ein, will erklären, wie schnell sie diesmal zu ihrer Psychose kam, die sich mit der berühmten Schlaflosigkeit bei ihr meldete. Zuerst kamen die Stimmen, alles gute Stimmen von vertrauten und lieb gewordenen Personen. Ich sah Bilder, die überhaupt nicht existierten. Ich hörte Musik und Beiträge aus dem Radio mit den Stimmen meiner Freunde. Zugleich hörte sie mit dem Rauchen auf.

Eine schöne Geschichte über ihre Fähigkeiten während eines psychotischen Schubes ist, wie sie ohne Geld im Taxi zu Radio Bremen gelangte, um ein „Anti-Raucher-Programm“ vorzustellen. Sie scheiterte schließlich am Pförtner. Irgendwann brachen Nachbarn ihre Wohnungstür auf, weil man nichts von ihr hörte. Dabei hatte sie gesungen, leise Musik gehört, Selbstgespräche geführt. Narrenfreiheit. Ein festlich gedeckter Tisch, Blumen, Kerzen, die Sherry-Flasche, aus dem Radio „Komm kuscheln, komm kuscheln, ich will nichts von dir.“ Von Freunden gesungen! Das Schönste!

Ein wenig staunen diese Reisenden über sich selbst; ihr Herz ist voll, sie erzählen gern und oft schön. Also suchen sie Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Obwohl, so ruft Birgit Raschdorf: INTERESSIERT SICH ÜBERHAUPT JEMAND DAFÜR?

Burkhard Straßmann

(*) Irrtu(r)m, Dezember 94, 92 Seiten, 3 Mark; Redaktionssitzungen Mittwochs 11-13 Uhr, Tel.: (0421) 396 48 08.