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Supermarkt der Zweckmäßigkeit

Kühl: Michael Wildenhains „Hungrige Herzen“ in der Regie von Thomas Heise im Theater Heilbronn  ■ Von Petra Kohse

Michael Wildenhain ist ein ungemein produktiver Autor. Seit 1983 hat der 36jährige Berliner zwölf Texte veröffentlicht, darunter sechs Stücke. Seine Themen sind Jugendliche, Gewalt, Liebe, die Gruppe und der Einzelne. Die Gratwanderung zwischen „Gefühl und Härte“, die im Kreuzberger Straßenkampf Parole war, kennzeichnet auch seine Texte. Er stilisiert, psychologisiert aber nicht, die Sprache ist rhythmisch, drängt ins Poetische und bleibt doch dissonant. Das ist nicht frei von Kitsch, aber immer bleiben Fragezeichen.

„Das Leben rast. / Die Lüfte brennen! / Der Himmel ist ein Arschloch. / Gelbes Blut! / Wir sind die Totgebornen die nach draußen rennen / Die Diktatoren die erst prahlen und dann flennen / Am nächsten Tag will keiner keinen kennen (...).“ Die das im Wechsel sagen, sehen sich als Outcasts und werfen manchmal mit völkischen Parolen um sich. Ein überraschender Fall von Selbstanalyse, pathetisch und resigniert. Er findet sich in Wildenhains soeben uraufgeführtem, sechsten Stück: „Hungrige Herzen“.

Es handelt von einer Horde Jugendlicher, die sich nach ihrem Lehrlingsfeierabend auf einem verlassenen Fabrikgelände herumtreiben, irgendwo in der südwestdeutschen Provinz. Daß Wildenhain den Schauplatz Berlin verläßt, hat einen Grund: das Stück entstand als Auftragsarbeit des Theaters Heilbronn.

Heilbronn ist eine Provinzstadt. Das Theater bedient das schwäbische Umland, Landfrauenvereine inklusive. Der teuerste Platz fürs Schauspiel kostet 24 Mark – Theater kann für alle sein. Gleichzeitig schmückt sich das Haus mit der Exklusivität einer Autoren-Werkstatt. Nach einem Stück von Irina Liebmann ist „Hungrige Herzen“ die zweite Produktion, die speziell für Heilbronn geschrieben wurde. Speziell für Heilbronn?

Die Jugendgruppe ist hierarchisch organisiert, es gibt einen „Chef“, einen „Adlatus“ und Gefolge. Sie nennen sich auch gerne „Moor“, „Spiegelberg“ und so weiter. Daß sie Schillers „Räuber“ kennen, erstaunt bei sozial so explizit Deklassierten. Aber es paßt ganz gut, denn Karl Moor wird ja auch nur deswegen zum Räuberhauptmann, weil ihn der Vater verstieß. Ähnlich auch hier: Der siebzehnjährige „Chef“ muß alltäglich zusehen, wie sein Vater die Mutter vergewaltigt, und bekommt eine Gabel ins Bein gestochen, als er ihr helfen will. Der Mangel an sozialen Alternativen treibt Jugendliche in die Gewalt, sagt Wildenhain. Und: Das hat noch lange nichts mit Ideologie zu tun, denn die völkischen Parolen sind nur Kraftmeierei – bei Bedarf identifiziert sich der „Chef“ auch mit der RAF.

Die Tage auf dem Gelände sind gezählt, es wurde verkauft, der Sohn des zukünftigen Hauswarts ist schon angereist. Aus dem Osten, aus Magdeburg. „Wenigstens kein Bimbo“, sagt der „Chef“. Die nämlich werden mißhandelt, so geschehen am Abend vorher. Deswegen tritt eine Sozialarbeiterin auf, die von sich sagt, sie sei „die letzte Station vor dem Staatsanwalt“. Aber sie kann dem „Chef“ nicht helfen. „Warum gehst du nicht ganz weg?“ fragt sie. Und er antwortet: „Leute wie Sie, die können weggehen. Mal hier Paris, mal da Berlin. – Leute wie Sie, die haben Abitur.“ Also doch ein Stück für die Provinz. Wo man noch die Illusion hat, anderswo wär's anders.

Aber statt zu helfen, stiftet die Sozialarbeiterin nur Verwirrung, denn: Gewalt ist faszinierend, wie sie sich in einer Sequenz auch eingesteht. Sie nähert sich dem „Chef“ als Frau. Und da sie eine Türkin ist, beginnt die Horde zu meutern, als dieser sich das gern gefallen läßt. Später tritt dann noch eine Schar türkischer Lehrlinge auf. Aber das hat der Uraufführungsregisseur Thomas Heise gestrichen.

Bei ihm stürzt der „Chef“ auch nicht in völlige Verzweiflung, weil die Gruppe ihn ächtet, sondern weil er erkennen muß, daß er den Körper der Sozialarbeiterin haben könnte, nicht aber ihre Liebe. Die Sozialarbeiterin steht natürlich für die Linke allgemein. Ihre hilflose Halbherzigkeit klagt Heise an. So filtert er zwar keine Eindeutigkeit aus Wildenhains dramatischem Zettelkasten, aber er konzentriert die Handlung und spitzt sie zu.

Thomas Heise kommt auch aus Berlin, Ost-Berlin. Er hat einen umstrittenen Film über die Normalität von jungen Rechtsradikalen gedreht, der sie als Individuen beleuchtet: „Stau – jetzt geht's los“. Heise gehört zum Berliner Ensemble. Er hat als Theaterregisseur einen streng antipsychologischen Stil, deutelt nicht, sondern choreographiert Sätze.

Man sitzt auf der Bühne, zwischen den beiden Eisernen Vorhängen. Eine quadratische Arena wurde zusammengeschweißt, Bühne: Angelika Winter, Schwimmbadatmosphäre, Trockenschwimmen. Manchmal senkt sich der Boden, einige Szenen spielen auf der Beleuchtergalerie. Die Figuren bewegen sich wie auf Schienen, diagonal und parallel zu den Tribünen. Mit Verve bellen sie ihren Text, starren ins Publikum und demonstrieren Wichtigkeit. Geistige Leere treibt Nabelschau auf einer Kommandobrücke, irgendwo müssen sie sich das abgeguckt haben.

Der „Chef“ und die Sozialarbeiterin, Thomas Braus und Viola von Lewinsky, stehen von Anfang an stets einen Schritt zu dicht beisammen. Als Parallelhandlung zu einem ihrer Gespräche keimt bei Wildenhain die Meuterei der Gruppe. Heise installiert statt dessen ein vögelndes Paar auf der Galerie – als szenischen Kommentar.

Viele Gewaltmomente hat der Regisseur gestrichen. Es wird kaum geprügelt, sondern mit Platzpatronen geschossen. Oft sitzen die Jugendlichen auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand, und starren in die Luft. Die Figur des „Adlatus“, der bei Wildenhain den Putsch gegen den „Chef“ betreibt, trägt hier (gespielt von Andreas Hutzel) einen Text von Karl Marx über den Mehrwert des Verbrechens vor. Ausverkauf der Ideologien im Supermarkt der Zweckmäßigkeit.

Manche Längen hat diese Inszenierung, und das Heilbronner Ensemble macht sich immer wieder auf die Suche nach der Geschichte der Figuren und findet natürlich keine. Dennoch: Die Inszenierung ist gut. Sie ist stringent, kühl und faktisch, stilsicher in Schwarzweiß gehalten, mit wenigen rot-pathetischen Flecken, und schnurrt sich ab wie ein Uhrwerk.

Aber vielleicht ist ihr strukturalistischer Ansatz falsch. Vielleicht ist schon Wildenhains Zugriff auf seinen Stoff falsch. Er klittert die Befindlichkeit einer in die gewalttätige Intoleranz abgedrifteten Jugend und bietet eine Palette von Motiven und Verstrickungen an. Und Heise demonstriert Verständnis, aber zeigt nicht, wofür und weshalb. Er bietet lediglich die Oberflächenansicht eines Dramenskeletts und prangert das Versagen der Sozialdemokratie an. Gut. Aber die ist eben nicht Drahtzieherin, sondern lediglich Vermittlerin.

Der Verzicht auf Psychologie, den die Regie noch potenziert, läßt das, was man auf der Bühne sieht, in absolute Allgemeinheit münden: einen Siebzehnjährigen im Zustand der Unbehaustheit, mit dem Hunger nach Liebe und Eindeutigkeit. Schwach ist der Mensch, und schlecht ist das Leben – Expressionismus der Jetztzeit. Die Produktion schlägt auf die Produzenten zurück, was zeigt: Das ist keine Heilbronner Geschichte mehr, sondern ein Symptom für den Stand der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus (vielleicht nicht nur) im Theater. All die Oberflächenerklärungsmodelle umkreisen ihr Subjekt, wagen sich aber nicht wirklich heran. Hier bleiben keine Fragezeichen. Hier droht die Agonie.

„Hungrige Herzen“ von Michael Wildenhain, Regie: Thomas Heise, Bühne: Angelika Winter. Theater Heilbronn, nächste Aufführung am 30. Januar.

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