Lebenselexier für die ergrauten Emigranten

Die deutsch-jüdische Zeitschrift „Aufbau“ lebt vom Esprit der alten Macher und braucht junge Leser  ■ Aus New York Thorsten Schmitz

Lisa Schwarz trägt vorzugsweise Rot. Das steht ihr am besten, Sonnenuntergangsrot. Ihren Lieblingssatz, den sie womöglich als Hut- Model von Chanel mal aufgeschnappt und nie wieder vergessen hat, stellt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Disposition: „C'est le ton qui fait la musique“, der Ton macht die Musik. Und deshalb quittiert sie die Frage nach ihrem Alter standesgemäß mit einem Timbre, das aus dem Keller kommt: „Sie Aas!“ Eine Dame wie sie werde jedes Jahr 39. Dabei lacht sie laut, eben noch die Schrecksekunde auskostend, und hustet bedenklich. Lisa Schwarz ist passionierte Raucherin, das heißt sie pafft. Ohne Zigarettenspitze.

Ihre Arbeitsnische im Großraumbüro, das an der berühmtesten Diagonalen der Welt liegt, dem Broadway, hat Lisa Schwarz mit verblaßten Plakaten aus einem Schweizer Fremdenverkehrsamt tapeziert. Im Neonlicht sehen sie noch blasser aus. Wenn an einem Montagmorgen zum zehnten Mal das Telefon klingelt und sich jemand darüber mokiert, daß sein Aufbau am Wochenende nicht im Briefkasten lag, läßt sie ihren Blick schweifen über die Berge, Seen und Täler von St. Gallen und Klosters. Das macht sie sanft und empfänglich auch für die ungerechteste Kritik. Manchmal allerdings hilft nur noch Biß, den eignet man sich an, wenn man in dieser lebensgefährlichen „Hochhauswüste“ lebt.

Kürzlich bat eine ältere Dame um Auskunft, ob in der Berliner Wilhelmstraße 10 früher einmal die Reichskanzlei untergebracht war. Lisa Schwarz mußte passen, die Anruferin ließ nicht locker: „Können Sie mich dann mit jemand Intelligenterem verbinden?“ „Tut mir wirklich leid“, flötete Lisa Schwarz über die Unverschämtheit hinweg, „die sind alle zum Lunchen gegangen.“

Lisa Schwarz ist in Berlin geboren – wann, das muß man ihr versprechen, wird nicht verraten – und flüchtete im Mai 1939 nach Genf. Vor der Deportation in ein Konzentrationslager. 1948 fuhr sie per Schiff über den Atlantik, die Stadt mit der Freiheitsstatue wurde zur Ersatzheimat.

Für Sauerbraten mit Klößen und für Sauerkraut und Kartoffelbrei würde sie sterben. Zum Lunch packt sie hauchdünn geschnittene Stullen aus dem Butterbrotpapier, belegt mit ungarischer Salami. „Ich bin keine Deutsche“, sagt sie, wie um Mißverständnissen vorzubeugen. Das zweite Leben in der Upper West Side von Manhatten, wo New York am deutschesten und sichersten ist, konnte sie nicht zur Amerikanerin naturalisieren. Davor bewahrt hat sie womöglich ihre derzeitige Funktion als Aufsichtsratsmitglied des Aufbau, einer vor 60 Jahren von deutschen jüdischen Emigranten für deutsche jüdische Emigranten gegründeten Wochenzeitung.

Ihre Hauptaufgabe und Passion besteht darin, den Aufbau zu repräsentieren, das Blatt durch Spenden zu bereichern, die Stammleser ins Museum und zum Sommerurlaub in die deutsche und französische Schweiz zu begleiten – und für alle Fragen eine Antwort parat zu halten. „Lisa, welches Konzentrationslager war größer, das in Ravensbrück oder das in Sachsenhausen?“ fragt Monika Ziegler im Vorbeigehen; sie gehört seit 1988 zur Aufbau-Redaktion. „Was ich alles wissen soll!“ sagt Lisa Schwarz, verdreht die Augen und bleibt eine Antwort schuldig. Statt dessen begrüßt sie eine alte Freundin, die nur mal kurz guten Tag wünschen will, als klopfe sie einen Teppich per Hand aus: „Happy New Year my Dear!“ Die Türen von Redaktion und Büro stehen immer offen, buchstäblich. Jeder ist willkommen, täglich schneien Leser herein und bleiben auf einen kurzen Plausch. Sie alle sind 70 oder 80 Jahre alt, kommen aus Deutschland – und reden in Englisch miteinander. Und willkommen am Broadway 2121 sind auch die, die das Abonnement ihrer Eltern kündigen wollen, weil sie Deutsch nie gelernt haben.

Schon ab dem frühen Morgen wird die Schweizer Idylle der Lisa Schwarz durch baßtriefende Discomusik getrübt. Im gleichen Stockwerk bellt, ebenfalls montags bis freitags, ein Koreaner seinen Taekwondo-Schülern Zweikampf- Befehle zu. Und einen Stock tiefer verrenken sich hörbar Musical- Eleven für West Side Story und 42nd Street. Soviel Lärm hält fit, logisch.

Alle zwei Wochen, am Freitag, erscheint der Aufbau, 10.000 mal 24 Seiten. Er ist eine reine Abonnement-Zeitung, selbst in New York nur in ein paar Zeitungsläden und am Münchner und anderen Bahnhofskiosken – für 12 Mark – erhältlich. Amerikas einzige deutsch-jüdische Zeitung, und weltweit die älteste, wird in 40 Ländern gelesen. Die Abonnenten leben in Sao Paulo, Zaire, Johannesburg, Tokio, Hongkong und Paris. Und in Oggersheim: Helmut Kohl bezieht den Aufbau ebenfalls. Wenn jemand dem Blatt 50 Jahre die Treue gehalten hat und sein Abo plötzlich nicht mehr zahlen kann, kriegt er es geschenkt.

In anderen Redaktionen der USA wachen die jeweiligen Präsidenten über den Schreibtischen, zur Zeit der fortünelose Bill Clinton. Im Aufbau dagegen lächeln schon immer und nur Franklin D. Roosevelt, Thomas Mann und Albert Einstein auf die zwei Redakteure und die Praktikantin an den Schreibmaschinen hinab. Im ansonsten flächendeckend rauchfreien Manhattan hat Zigarrettenqualm den Wänden der Redaktion eine goldene Patina verpaßt. Die zwei Redakteure, Monika Ziegler, 47, und Hermann Pichler, 52, ertrinken in Stapeln vergilbter Zeitungsseiten und Büchern, die nur noch in Antiquariaten erhältlich sind. Robert Weinberg, der Mann von der Anzeigenabteilung, hat soeben seinen 86. Geburtstag gefeiert, die massiven Tische sehen aus, als stammten sie noch aus der Prohibitions-Ära. Und es sind immer wieder Tote, deren Namen durch das Blatt geistern. Totgeglaubte auf der Suche nach Toten, Verwandte von Toten, Freunde und Freundesfreunde von Toten, und manchmal geschehen Wunder, und Leute, die einander totgeglaubt hatten, finden sich wieder. Zwischen Annoncen für Karosteppdecken und eine Metzgerei, die Schwarzwälder Schinken offeriert, finden sich, auch heute noch, Lebensschicksale auf fünf Zeilen: „Gesucht wird: Edith Irene Elisabeth Arnold, geb. 1. Juni 1930 in Leipzig, wohnhaft 1949-51 in Stendal, von ihrer Tochter Elisabeth. Erbitte Auskunft unter: ...“

In jedem Artikel des Aufbau schimmert seine traditionelle Liberalität durch. Die Rezension zu einem Kinofilm über fünf lesbische Frauen findet sich genauso wie eine Abrechnung mit der rechts„intellektuellen“ Jungen Freiheit unter dem Titel „Steigbügelhalter des Faschismus“. Harsche Kritik an Israels Siedlungspolitik steht auf Seite 1, während in New York Friedensgespräche laufen, und ein paar Seiten weiter ein exquisites Feature über die eigentlich staubtrockene Tatsache, daß die Deutsche Bundesbahn Züge auf den Namen Else Lasker-Schüler tauft. Und wenn das Rätsel einmal einer Sonderausgabe über Besuchsprogramme deutscher Städte für exilierte Juden zum Opfer fällt, verspricht man den Lesern doppelten Ersatz in der nächsten Ausgabe.

Ähnlich labyrinthisch wie bei der Neuen Zürcher Zeitung zerläuft zuweilen der Umbruch auf den 24 geklebten Aufbau-Seiten. Artikel enden rätselhaft und beginnen plötzlich dort, wo doch eine Bildunterschrift stehen müßte. Ressortaufteilungen sind vorhanden, aber man sollte sich nicht auf sie verlassen. Die modernste Einrichtung ist das Faxgerät, es garantiert das zweiwöchentliche Erscheinen. Die Redaktion hängt am Tropf, im positiven Sinn. Über die Welt verstreute Journalisten liefern Artikel, Portraits, Kommentare, moderne Märchen. Nicht, um ihr Konto zu füllen – pro Seite kann der Aufbau insgesamt nur 50 Dollar ausschütten. Der Aufbau ist mit seinen Lesern alt geworden und doch jung geblieben. Lisa Schwarz verdichtet die Zwangslage: „Wir verdienen an jeder Todesanzeige und verlieren gleichzeitig einen Leser.“

Das Blatt war ursprünglich nichts anderes als das unregelmäßig erscheinende, hektographierte Mitteilungsblatt für deutsche Emigranten, Flüchtlinge aus Hitler- Deutschland, vorwiegend Juden also. Es sollte Neuankommenden Kontakte und Arbeit verschaffen, unter der Rubrik „Say it in English“ nach dem Weg fragen helfen und das komplizierte Subway-System erklären. 1934 wuchs die Zahl der Flüchtlinge so rasant, daß sich der Aufbau unbeabsichtigt zu einer richtigen Zeitung mauserte. Unter den deutschen Flüchtlingen avancierte der Aufbau, der erst 1966 das Wort „Reconstruction“ aus dem Titel strich, zu einer Art Bibel. Bei allen Appellen zur Assimilation an die Neue Welt fungierte er auch als Nabelschnur zur Alten Welt. Als eine der ersten Zeitungen berichtete er über Konzentrationslager und Gaskammern, schon im Juli 1942 unter der Schlagzeile „Die Verschwörung des Schweigens“. Innerhalb kürzester Zeit erreichte der Aufbau eine Reputation, die er auch seinen berühmten Autoren verdankt: Thomas Mann, Albert Einstein, Franz Werfel, Karl Jaspers, Hermann Broch, Nelly Sachs und Carl Zuckmayer publizierten in ihm flammende Artikel gegen Krieg und Nationalsozialismus.

Heute hat der Aufbau fast nur noch eine Bestimmung: Er gibt den ergrauten Emigranten „the vitamins to keep them going“, wie der 69jährige Verleger Jerry A. Brunell flachst. Seine Mutter liest jeden Buchstaben jeder Ausgabe, als trinke sie ein Lebenselixier. Ein großer Verlust für alle war da der plötzliche Tod des Chefredakteurs Henry Marx im letzten Sommer. Marx hat jahrelang, mit wachem Auge und spitzer Feder, höchst geistreich aktuelle Politik reflektiert und die Redaktion jeden Tag aufs neue motiviert. Nie hat er dabei die Bundesrepublik außer acht gelassen, die Aufbau-Leser waren immer auf dem laufenden, wohin sie gerade treibt: Bitburg, Historikerstreit, Faßbinder-Aufführung.

Nun braucht der Aufbau ein neues Konzept. Und neue Leser. „Wir müssen auch Jugendliche für unsere Zeitung gewinnen“, sagt Monika Ziegler. Und Hermann Pichler findet, nur in der Lücke könne der Aufbau bestehen: „Mit der New York Times können wir nicht konkurrieren.“ Er sieht die Chance des Blattes darin, als eine Art Brückenkopf zwischen Amerika und Europa zu fungieren, aus beiden Kontinenten intensiver als bisher zu berichten. Die letzten Monate haben die Redaktion gelähmt, die Energie war verpufft. Anfang Januar indes ist ein kleines Wunder ist geschehen. Man hat einen neuen Chefredakteur gefunden, es ist der vierte innerhalb von 60 Jahren. Er heißt Uwe Westphal, ist 42 Jahre jung und hat zuletzt aus London für BBC und die Sächsische Zeitung berichtet und im Vorstand des dortigen PEN-Zentrums Kontakt zu deutschsprachigen Autoren gepflegt.

Am vorletzten Montagmorgen hielt Westphal erstmals Zwiesprache mit Redakteuren und Verleger. Die Inthronisierung und das Gespräch über die Zukunft des Aufbau dauern vier Stunden, avisiert waren zwei. Westphal will dem Blatt ein neues Profil geben, mehr Politik, mehr auf englisch verfaßte Artikel, ein professionelles Layout. Sein größter Wunsch ist eine deutsche Lizenzausgabe. „Der Aufbau soll nicht als zu bemitleidendes Geriatrikerblatt angesehen werden“, sagt er.

Und doch, Henry Marx, der große Motivator fehlt nun. Ein bißchen kann ihn Lisa Schwarz ersetzen, sie macht das vorbildlich. Es gelingt ihr fast immer, das Launen- Barometer hochzujazzen. Mit bierernster Miene eilt sie auf Monika Zieglers Schreibtisch zu und gibt ihr „was ganz Wichtiges“, als sei es die Einladung von Hillary Clinton zum Dinner. Es ist ein Pulloverkatalog, 1:0 für Lisa Schwarz.