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Dem schenken wir unsere Seele

Der türkische Industrielle Cem Boyner von der „Bewegung für Neue Demokratie“ reist nach Kurdistan – und wird begeistert empfangen  ■ Aus Diyarbakir Ömer Erzeren

„Die Sonne geht im Osten auf. Doch der Osten ist finster“, ist auf einem Transparent im Sportpalast der kurdischen Stadt Diyarbakir zu lesen. Cem Boyner, Vorsitzender der neugegründeten türkischen Partei „Bewegung für neue Demokratie“, wird in der heimlichen Hauptstadt Kurdistans erwartet. Als wenn er über die jüngsten Fußballergebnisse reden würde, plaudert ein Jugendlicher mit seinem Freund über die Politmorde in den vergangenen Wochen, über die Todesschwadronen, die mutmaßliche Sympathisanten der kurdischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) ermordeten. Mehrere tausend Kurden sind gekommen, um Cem Boyners Rede zu folgen. Viele können Boyner nur aus Lautsprechern außerhalb des Saales hören. Für die eingeschüchterten Menschen der Stadt, in der Terror und staatliche Repression herrschen, ist Cem Boyner etwas Besonderes. Die kurdischen Abgeordneten, die sie selbst gewählt haben, sitzen im Gefängnis ein. Und jetzt kommt ein steinreicher türkischer Industrieller aus dem fernen Istanbul, der den Kurden das Glück verheißen will. Cem Boyner – ein Außerirdischer. Vor seiner Rede dröhnt kurdische Musik aus den Lautsprechern. „Du hast meine Seele zum Schmelzen gebracht, was willst du von meinen Knochen“, singt Beyto Can.

Wer kurdische Eltern hat, ist Kurde, nicht Türke

Mit den Worten des evangelischen Theologen Martin Niemöller von dem, der schweigt, als die Nazis die Juden, Kommunisten, Katholiken abholten, leitet Boyner seine Rede ein. Es wird eine radikale Abrechnung mit der staatlichen Kurden- Politik. Verächtlich spricht Boyner von den regierenden „Politkrämern“, die die Türkei in eine Katastrophe führten. Jedes Thema, das Boyner abhandelt – sei es Wirtschaftskrise, Kreditwürdigkeit, Inflation, Militärausgaben, die Krise des Parteiensystems oder die katastrophale Menschenrechtssituation – schließt er mit einer rhetorischen Frage ab. „Hat das alles nichts mit der kurdischen Frage zu tun?“ Die Antwort ist parat. „Grundlage dafür, daß diese Probleme in einer tiefen Krise mündeten, ist die kurdische Frage.“ Doch die Lösung der kurdischen Frage sei die einfachste Sache der Welt. Und, fügt der immer ökonomisch denkende Unternehmer hinzu, die Lösung koste noch nicht einmal Geld. „Die Politik der Leugnung der Kurden, die Leugnung der kurdischen Identität ist am Ende. Die Türkei muß beginnen, über die kurdische Frage zu reden. Zur Zeit reden wir mit Waffen, mit Kanonen, Gewehren, Vertreibung, dem Abbrennen von Dörfern, mit Terror und Folter.“

Die nationalistischen Formeln, die die Existenz des kurdischen Volkes leugnen, werden von Boyner der Lächerlichkeit preisgegeben. „Jemand, dessen Eltern Kurden sind, ist nicht Italiener, Chinese oder Türke, sondern Kurde.“ Schon diese einfache Feststellung ist für die offizielle Türkei eine ungeheure Provokation – und für die Kurden im Saal Anlaß für dröhnenden Beifall. Doch Boyner geht weiter. „Müssen hunderttausend sterben, damit verstanden wird, daß die jetzige Politik falsch ist?“ Der Ausnahmezustand müsse aufgehoben, die Institution der paramilitärischen Dorfmilizionäre, die für ihren Kampf gegen die PKK vom Staat bezahlt werden, müsse aufgehoben werden, und den Kurden müsse das volle Organisationsrecht eingeräumt werden. Auch wenn er es nicht offen ausspricht: Was Boyner da skizziert, ist der Weg zu direkten Gesprächen zwischen Regierung und PKK. Von dem „Segen des israelisch-palästinensischen Friedens“ ist die Rede.

Israel und Palästina als Beispiel für Kurdistan

Zum Schluß der Rede wird Boyner auf den Schultern getragen. Begeisterung herrscht im Saal. Boyner ist nicht einer der ihren. Doch er ist die einzige politische Hoffnung in Form einer legalen Partei. Politische Unterdrückung, Entbehrungen, Folter und Mord haben selbst aus den Kurden gewiefte politische Taktiker gemacht. Durch die Dosierung des Applauses wird dem Politiker zugewinkt: „Unser Herz schlägt für die Guerilleros. Doch unsere Stimme hast du so gut wie sicher.“ In der Stadt, in der kaum türkische Zeitungen gelesen werden, weil sie in den Augen der Bevölkerung Kollaborateure des Feindes sind, verbreitet sich die Kunde über den Inhalt von Boyners Rede wie ein Lauffeuer. „Der ist ja super“, verrät ein Kringelverkäufer nach der Veranstaltung. Der Jugendliche, der zu Anfang kategorisch behauptete, daß „Politiker nur leere Worte reden“, schaut uns mit seinen schwarzen Augen an. „Bruder, meinst du, die werden ihn umlegen?“ Kein anderer als Boyner hätte öffentlich eine solche Rede halten können, ohne sein Leben oder wenigsten Gefängnis zu riskieren. Doch Boyner, einst Sprecher des mächtigen Arbeitgeberverbandes TÜSIAD, ist eben nicht irgendwer. Aber selbst ihm werden die Grenzen klargemacht. Bein Regionalgouverneur Ünal Erkan, dem obersten Beamten der Regierung im Ausnahmezustandsgebiet, erhält Boyner eine eiskalte Abfuhr.

Skurrile Szenen spielen sich beim zweitägigen Boyner-Besuch in Diyarbakir ab. Die Ehefrau des Politikers, Ümit Boyner, eine Dame der besseren Gesellschaft, besucht aus den Dörfern vertriebene kurdische Familien: in Baracken gepferchte Menschen. Hunger, Unterernährung, Elend, Schlamm und Dreck. Eine junge Frau im Kopftuch, die ihr 20 Tage altes Baby in ihren Armen hält. Eine Journalistin fragt: „Wer hat eure Dörfer abgebrannt?“ „Die Regierung. Sie haben alle Häuser angesteckt.“ Frau Boyner sieht so etwas zum ersten Mal in ihrem Leben – und findet es schrecklich.

Zu happigen Preisen verkaufte die Partei Karten für ein Abendessen mit Boyner im besten Hotel der Stadt. Hunderte sind gekommen – reiche Kurden ohne ihre Ehefrauen. Viele Frauen sind dagegen unter den Politfunktionären der Partei, die Boyner begleiten. Unter alkoholisierten Zuständen ist alles möglich: kurdische Tänze auf der Bühne – auch Cem Boyner und die Damen der feinen Istanbuler Gesellschaft machen mit. Ein kurdisches Lied ertönt: „Weil er ein Mensch ist, haben wir Achtung vor ihm. Egal ob Eskimo oder Schwarzer.“

Der Kurde am Tisch verrät das Geheimnis von Politik in Kurdistan. „Jedem Politiker, der uns die Hand ausstreckt, dem schenken wir unsere Seele.“

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