Ein zu kleines Gefäß läuft über

■ Emil Dister, Hochwasserexperte beim WWF-Auen-Institut in Rastatt, über die Ursachen der sich häufenden Überschwemmungen der letzten Jahre und mögliche Maßnahmen

taz: Herr Dister, die Tendenz scheint eindeutig: ein schlimmes Hochwasser 1947, dann 1983, 1988, 1993/94 und jetzt 1995. Wie erklären Sie sich diese Häufung der letzten Jahre?

Dister: Wir sehen zwei Erklärungsmuster: Zum einen haben die Menschen die Flußläufe stark verändert, so daß weniger Wasser in der Landschaft zurückgehalten wird. Zum anderen – und das ist ein Thema, bei dem wir noch keine völlige Gewißheit haben – sind die Menschen dabei, in das Klima der Erde einzugreifen. Und das kann die Zahl der starken Regenfälle erhöhen.

Zunächst mal zu den Veränderungen bei den Flüssen. Worin sehen Sie den wichtigsten Eingriff der Menschen?

Sicher beim Verlust der Auen entlang der Flüsse. Am Beispiel des Rheins kann man das sehr gut sehen. Dort gingen zwischen 1955 und 1977 etwa 130 Quadratkilometer Auenfläche verloren. Das entspricht sechzig Prozent der gesamten Auenfläche von 1955. Das heißt, daß dort kein Wasser mehr zurückgehalten wird. Was das bewirkt, kann man sich leicht vorstellen: Wenn die gleiche Wassermenge in ein sechzig Prozent kleineres Gefäß fließt, braucht sich keiner wundern, wenn das Gefäß überläuft. Und genau das tun unsere Flüsse zur Zeit.

Wodurch gingen diese Auen verloren?

Einfach dadurch, daß die Auenlandschaften mit Dämmen vom Fluß abgetrennt wurden. Sie wurden trockengelegt, und das Gebiet dahinter wurde dann bebaut – mit Wohnungen, Industriegebieten, Tennisanlagen und ähnlichem. Diese Eindeichungen und Begradigungen lassen die Flüsse erheblich schneller fließen. Beim Rhein ist das genau dokumentiert: Früher brauchte das Wasser des Rheins von Basel bis Karlsruhe 65 Stunden, heute braucht es nur noch 28 Stunden. Nun könnte man sagen, da ist das Wasser schneller weg. Doch in Wirklichkeit kommt es zu einer folgenschweren Überlagerung von mehreren Wellen. Die Welle, die aus der Schweiz jetzt schneller heranfließt, trifft mit den Wellen aus den vielen Nebenflüssen des Rheins zusammen.

Also könnte man sagen, die Entwicklung kulminiert?

Ja, wir nennen das „Superposition der Wellen“. Das macht die Welle zwar weniger lang, aber höher. Und wenn ein solches Hochwasser, das ja an sich noch nichts Negatives ist, in Gebieten auftritt, die vom Menschen besiedelt sind, erleben wir eine „Katastrophe“.

Wie groß ist der Einfluß des Waldsterbens?

Der dürfte sicherlich eher bescheiden sein. Daß ein Waldboden mehr Wasser aufnehmen kann als ein verschlemmter (nicht mehr wasseraufnahmefähiger; d. Red.) Ackerboden, ist zwar richtig. Und daß die Kronen der Bäume das Regenwasser bremsen, stimmt ebenfalls. Aber zum einen sind diese Wirkungen stärker im Sommer, haben also weniger mit dem aktuellen Hochwasser zu tun. Und zum anderen geht es dabei nicht um solche Mengen, die zu einem solchen Hochwasser führen.

Die Versiegelung des Bodens wird auch immer als eine der Ursachen genannt ...

Dafür gilt etwas Ähnliches wie beim Waldsterben: In einem kleinen Einzugsgebiet kann das tatsächlich dramatische Folgen haben. Wenn in einem Gebiet in der Nähe von Stuttgart vielleicht dreißig oder vierzig Prozent des Bodens versiegelt sind, dann kann das zu lokalen Überschwemmungen führen. Aber in der gesamten Bundesrepublik sind im Schnitt zwölf Prozent der Gesamtfläche versiegelt. Selbst wenn wir diese Gebiete komplett renaturieren würden, also alle Straßen und Häuser entfernen würden, könnte das ein Hochwasser nur lindern, aber nicht verhindern.

Nun zum zweiten Ursachenkomplex, den Klimaveränderungen. Stellen Sie bereits fest, daß sich die Erwärmung der Erdatmosphäre bemerkbar macht?

Da fehlen uns die letzten Beweise der Meteorologen. Wir können nur folgendes sagen: Dadurch daß wir große Mengen an klimawirksamen Gasen wie Kohlendioxid in die Atmosphäre bringen, wird das Klima wohl instabiler. Und bei einem instabilen Klima steigt die Wahrscheinlichkeit von Hochwassern. Andersherum formuliert: Bei einem klassischen Kaltluftgebiet über Rußland, wie es früher viele Winter geprägt hat, tut sich nichts: Es fällt weder Regen noch Schnee. Doch wenn es im Winter nun häufiger warm wird, fallen mehr Niederschläge, und die Wahrscheinlichkeit von Hochwassern steigt deutlich.

Gibt es Gegenmaßnahmen?

Am wirksamsten ist es sicher, die Dämme zurückzuverlegen. Das dürfte allmählich auch leichter werden, weil die Landwirtschaft nicht mehr jeden Quadratmeter als Acker nutzen will. Das Ziel wäre, dadurch die Auengebiete auszuweiten. Und dort stört es ja auch keinen, wenn das Wasser zwei Meter hoch steht. Wenn es aber zwei Meter hoch im Wohnzimmer steht, dann stört das Wasser. Interview: Felix Berth