Wende mit „ä“

■ Der Roman zum Bremer Literatur-Förderpreis: Marion Titzes „Unbekannter Verlust“, die Beschreibung eines deutschen Gefühls in den Zeiten des Übergangs

Ein ganz eigener Ton weht einen an aus diesem Buch. Lange nicht gehört und doch unglaublich deutsch, eine romantische Grundstimmung, verschattet durch einen Moll-Ton, der von Vergänglichkeit und Verlust berichtet. „Unbekannter Verlust“, so nennt Marion Titze ihr Buch, und doch ist das, was da verloren gegangen ist, noch spürbar, gerade erst entglitten: das Grundgefühl der DDR, das jetzt plötzlich als altmodisch gilt. Kleine graue Dörfer in der tiefsten Provinz; die Gewohnheit, den Fichtelberg als höchsten Berg des Landes bezeichnen zu dürfen, und die sperrigen Packpapiertüten aus der Kaufhalle. Dabei wird auf diesen Seiten weder gejammert noch geklagt, nicht einmal richtig getrauert.

Marion Titze registriert melancholisch, daß etwas vorbei ist, daß nicht nur die Gegenstände verschwinden, die an die DDR erinnern, sondern auch den Menschen ein spezifisches Gefühl abhanden gekommen ist. Genau dieses Gefühl, das kaum konkret beschreibbar ist, versucht sie mit ihrer Prosa einzukreisen.

Die Erzählerin - der Autorin nicht ganz unähnlich - lernt bei solch einen Filmprojekt Daniel kennen, Arbeitskollegen und selbst Filmemacher, mit dem sie eine poetische Reportage über „Die hundertjährigen Dächer des Prenzlauer Bergs“ filmt. Ein enges, geschwisterliches Gefühl erwächst aus der gemeinsamen Arbeit, euphorische Stunden kurz nach Sonnenaufgang, einen Sommer lang mit den Dachdeckern auf den Giebeln am Prenzlauer Berg. Aus der Perspektive von oben beobachtet die Filmemacherin, wie das Viertel erwacht, Kinder zur Schule trödeln, junge Mütter, schon am frühen Morgen hetzend, die Kinderkarren zum Hort schieben und ein Hund zum ersten Erkundungsgang davontrottet. Die Idylle aus Arbeit und Freundschaft endet für die Filmemacher abrupt, als die lufige Reportage zum 40. Geburtstag der Republik dem ehemaligen Dachdecker Erich Honecker vorgespielt werden soll. Eine neue Fassung wird verlangt. Der Film soll „auf positiv“ umgeschnit-ten werden. Die Autorin weigert sich, und damit ist die Karriere vorerst zu Ende.

In dem Roman, drei Jahre nach dem „neuen Kalenderleben“, wird all dies erinnert. Die Erzählerin und Daniel sind konfrontiert mit dem Berlin nach dem Mauerfall - und der verlorenen Unschuld.

Daniel gelingt es, in der Umbruchphase aus alten Defa–Beständen doch Geld für das nächste gemeinsame Filmprojekt loszuschlagen, sofort stürzt er sich in einen Film über Novalis. Nun wird die gemeinsame Arbeit mehr und mehr zur Bewährungsprobe für die Freundschaft.

„Mir gefällt es nicht, sage ich. Daniel hatte einen neue Fassung des Drehbuchs geschrieben, es war einen Stopfgans daraus geworden. Er wollte beweisen, wie die politische Romantik Hitler gebiert... Er schaffte Novalis in die Kulissen des Dritten Reiches.“

Bei der Bewältigung der Krise wahrt sie Stil. Der Autorin gelingt es, in einem leichten, schwebenden Ton, der in seiner Zurückhaltung fast schon etwas altmodisches, romatisches hat, auf Distanz zu gehen. Die Erzählerin ergreift Partei für Novalis, sein romantisches Lebensgefühl und die Originaldrehorte. Bald ist ihre Kritik nicht mehr allein Verteidigung des Autors gegen seinen Biographen, sie wendet sich auch gegen den Freund Daniel.

So gradlinig die Erzählerin bei ihren Überzeugungen bleibt, so glasklar ist der Stil in dem die Autorin diesen schmerzhaften Prozeß des Zerbrechens einer Freundschaft nachzuzeichnen. Ohne der Versuchung einer DDR-Nostalgie anheim zu fallen, gelingt es Marion Titze, sich der Vergangenheit nicht nur zu stellen, sondern sie für sich gar zu bewältigen.

Am Ende reist die Erzählerin mit dem wahren Freund Joschko ins Erzgebirge, nähert sich noch einmal dem Herzen des längst vergangenen Ost-Deutschlands. Sie beobachtet genau: Am Kassenhäuschen der Seilbahn sitzt ein Schalterbeamter, dessen Hände so abgearbeitet sind, daß er die Münzen nicht mit den Fingern greifen, sondern nur mit der Handkante vom Tisch zu schaufeln vermag. In der Kurverwaltung sitzen Frauen, die das Wort Wende mit einem sächsischen Ä aussprechen und so vollends der Lächerlichkeit preisgeben.

Auf dem höchsten Gipfel des Fichtelbergs angekommen, ergreift sie ein stilistischer Höhenkoller: „Wir sind auf des Landes höchsten Berg, rufe ich, nachdem wir aus der Seilbahn herausgeklettert sind. Ehemals höchstem Berg, korrigiert Joschko. Ehemaligen Landes höchsten Berg, sage ich in einem Anfall von Grammatikwahn.“

Indirekt legt Marion Titze hier dar, auf welche Mittel sie bei ihrer Einübung in den „neuen Zustand“ zurückgreifen kann: einen scharf geschliffener Sprachmeißel, der die Wirklichkeit bloßlegt und dabei genügend Geröll wegschlägt, als daß zwischen den Zeilen auch noch der Moll-Ton der Melancholie mitschwingen kann.

Susanne Raubold

Marion Titze liest heute Abend, um 18 Uhr, im Cafe Ambiente aus ihrem Buch „Unbekannter Verlust“.