Diagnose: Bildschirmtod

■ Chefsprecher Werner Veigel verabschiedet sich von der "Tagesschau". Mit großen Lettern inszeniert die Boulevardpresse schon jetzt seinen Fernsehtod

„Becker spielt im Davis-Cup und lehnt Vertrag mit dem DTB ab“, meldet die Deutsche Presse- Agentur am Dienstag um 13.59 Uhr bundesweit in die Tickerräume der Zeitungsredaktionen und vermerkt, daß die Meldung „eilt“. Beckers Wiedereinstieg in den Davis-Cup ist ein Thema nationaler Wichtigkeit, es wird an diesem Dienstag vor allem die auf alltägliche Sensationen gepolten Gemüter der Boulevardpresse bewegen. Der Titel für die nächste Bild-Ausgabe scheint klar: „Boris: Ich spiele wieder!“. Daneben die kampflustige Beckerfaust.

Da trifft am Nachmittag eine weitere Meldung ein. Sie wird Boris Becker auf dem Bild-Titel über Nacht in die Knie zwingen: „Tagesschau-Chefsprecher Veigel hört wegen Krankheit auf“, hatte die Pressestelle des NDR an die Agenturen übermittelt. Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung war ein Gehirntumor entdeckt worden. Um 17.37 Uhr wird die Meldung mit der mäßig wichtigen „Priorität 4“ über die dpa-Rubrik „Kultur“ an die Redaktionen weitergeleitet.

„Entsetzliche Nachricht vom Arzt: Veigel Gehirn-Tumor“ titelt Bild am nächsten Morgen: „Alles aus!“ Das vor Vitalität strotzende Foto von Boris Becker und seiner Faust ist tatsächlich 14 Zentimeter weiter nach unten gerutscht. Auch die Berliner B.Z. hat sich an diesem Mittwochmorgen für das Veigel-Drama entschieden: „Mister Tagesschau: Kopfkrebs“, heißt es im Titel. „Ärzte fanden Gehirntumor. Nie mehr Fernsehen“.

Die Nachrichtenagenturen hatten am Vortag ihre Arbeit gewohnt gründlich erledigt, hatten Stellungnahmen von Veigels Kollegen und dem Chefredakteur von „ARD-aktuell“ eingeholt, später am Nachmittag waren die persönlichen Daten des so plötzlich Erkrankten eingespielt worden. Um 18.15 Uhr hatte die dpa – jetzt unter „Vermischtes“ – ein halbseitiges Porträt mit dazugehörigem Foto angeboten. „Werner Veigel“, hieß es da, „war ,das Gesicht‘ der renommierten Nachrichtensendung. Anscheinend konnten ihn auch die schlimmsten Nachrichten nicht aus der Fassung bringen. Allein seine stattliche Statur vermittelte Kraft und Ruhe, seine Stimme Sachlichkeit und Klarheit. Wie sein populärer Vorgänger Karl-Heinz Köpcke, der 1991 einem Krebsleiden erlag, war Veigel die unumstrittene ,Nummer 1‘ der Hamburger Sprecherriege.“

Ganz offenbar hat der unbekannte Porträtschreiber der dpa einige Schwierigkeiten mit der Zeitenfolge seines Textes. Vermittelt Werner Veigels stattliche Statur nicht immer noch „Kraft und Ruhe“? Transportiert seine Stimme nicht immer noch „Sachlichkeit und Klarheit“? Die Worte des Tickers klingen wie ein Nachruf. Werner Veigel leidet an einem Gehirntumor. Er muß seinen Platz als Chefsprecher der Tagesschau „aus gesundheitlichen Gründen“ räumen. Zwar lebt er noch, aber für das Fernsehen ist Werner Veigel bereits gestorben. „Nie mehr!“ lautet die Diagnose.

Auch Veigels Chef Ulrich Deppendorf verfällt angesichts dieser Nachricht salbungsvoll ins Perfekt: „Werner Veigel hat Maßstäbe gesetzt und großen Anteil an dem über Jahrzehnte anhaltenden Erfolg des ARD-Flaggschiffs gehabt.“ Das wird er nun nicht mehr tun können. Und wenn Dagmar Berghoff in der B.Z. auch „ganz stark“ hofft, daß Veigel „die Krankheit schnell überwindet“, ist auch ihr davor zitierter Satz – „Ein ganz liebenswerter Kollege, der einen guten Geist verkörperte“ – bereits von der Ahnung eines endgültigen Abschieds getragen.

Wie geht man um mit dieser Meldung? Eine Nachricht für die Randspalte der Medienseiten? Oder doch ein Anlaß zur endgültigen Rückschau? Unweigerlich ummantelt jeder Versuch, sich aus diesem Anlaß noch einmal mit dem Leben von Werner Veigel zu beschäftigen, die düstere Aura eines Nachrufs. Veigels Abschied vom Fernsehen ist nicht so freiwillig wie der Abgang von Ernst-Dieter Lueg, der morgen zum letzten Mal den „Bericht aus Bonn“ moderieren wird und danach bei guter Gesundheit in Rente geht. Die neugierige Frage, was der näselnde Lueg denn nun mit seinem „Leben nach der ARD“ anstellen wird, verbieten sich bei Werner Veigel, dem „Mister Tagesschau“, mit der B.Z.-Diagnose „Kopfkrebs“.

Die Gazetten mit den großen Lettern werden Veigel wohl noch einige Zeit auf den Titel heben, werden vom Fortgang seiner Krankheit berichten, ihn womöglich in seinem Haus auf einer griechischen Insel aufstöbern, später gar im Krankenhaus heimsuchen – und immer werden sie mit Dagmar Berghoff hoffen, daß er „seine Krankheit schnell überwindet“. Die seriöseren Zeitungen werden sich von dieser Form des Hospitaljournalismus sicher distanzieren, werden – wohl auch im Präteritum – das „Munzinger Archiv“ repetieren und auf kunstvollere Art von dem „Gesicht der Tagesschau“ Abschied nehmen. Letztlich aber gibt es keinen seriösen Umgang mit dieser Meldung. Im Fernsehen stirb man eben zweimal. Klaudia Brunst