: Offener Brief
■ an das Landgericht Mannheim
Sehr geehrte Frau Knoll,
ich möchte Sie bitten, mich vom Schöffendienst in den Strafkammern zu befreien, in denen Richter Orlet, Richter Müller oder Richterin Folkerts Dienst haben. Das betrifft, soweit ich es übersehen kann, zunächst die 1. Große Strafkammer am 31. 05. 1995 und die
6.Große Strafkammer am
15. 08. 1995.
Begründung:
Richter Orlet hat sich mit seiner schriftlichen Urteilsbegründung zur Strafsache gegen den NPD- Vorsitzenden Günter Deckert vom 22. 06. 1994 als wohlwollender Begleiter rechtsextremen Gedankenguts ausgewiesen. Orlet bezeichnete den antisemitischen und rassistischen Hetzer Deckert unter anderem als „charakterstarke, verantwortungsbewußte Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen“ und mit einer „Überzeugung, die ihm Herzenssache ist“, als „unbescholtenen Familienvater“ und als „allseits beliebten und erfolgreichen Lehrer“.
Zahlreiche Abschnitte der Urteilsbegründung sind in Sprache und Inhalt/Ausdruck einer kaum verhohlenen geistigen Kumpanei mit dem Rechtsextremisten Deckert. Mit dem Satz, „daß die deutsche Bevölkerung in ihrer überwältigenden Mehrheit überzeugt davon ist, daß die massenweise Vernichtung von Juden mittels Gaskammern in der nationalistischen Ära stattgefunden hat“, distanziert sich Richter Orlet aalglatt von der Faktizität des Holocausts. Dieser Satz steht beispielhaft für die bewußte Mehrdeutigkeit, die sich durch die gesamte Begründung zieht.
Meine Ablehnung bezieht sich nicht allein auf Richter Orlet, sie bezieht Richter Müller und Richterin Folkerts mit ein. Ich hatte am 10.08.1994, an dem Tag, an dem die Begründung bundesweites Aufsehen erregte, mit genau diesen Richtern Schöffendienst und hatte somit Gelegenheit, mich direkt mit ihnen auseinanderzusetzen.
Orlet rechtfertigte sich mir gegenüber unter anderem mit dem Satz: „Ich lasse mich nicht vor einen politischen Karren spannen, um eine politisch mißliebige Person zu eliminieren.“ Meinen Einwand, er ließe sich dann wohl lieber vor den Karren von Rechtsextremen spannen, beantwortete er mit: „Das ist deren Problem. Es geht hier um Recht.“
Müller und Folkerts stimmten dem zu. Müller sagte, er „stehe zu jeder Zeile der Begründung“. Folkerts betonte noch einmal, es gehe „hier nicht um Politik, sondern um Menschen und um justitielle Fragen“. Man müsse Politik und Recht zu trennen wissen, es gehe hier um eine „objektive Bewertung“ nur dieser einen, einzigen „Verfehlung“ Deckerts.
Mich erinnert diese Argumentation an zweierlei:
1. an das unsägliche Wort „ich habe doch nur meine Pflicht getan“, mit dem der typische Kleinbürger und Jurist sich ent-schuldigen wollten unter Hinweis auf eine angeblich fundamentale Trennung von Alltags- bzw. Berufswelt einerseits und Politikwelt andererseits, also unter Hinweis ausgerechnet auf eine Einstellung, die den industriellen Massenmord erst mit ermöglicht hat;
2. an die unter Geschichtsrevisionisten inflationäre Floskel von Wertfreiheit und Objektivität, mit der sie sich berechtigter Angriffe auf plumpeste Art zu entledigen versuchen.
Wer behauptet, historische und gesellschaftliche Wirklichkeit ließe sich politik- oder ideologiefrei interpretieren, verfolgt entweder unverfroren ein Eigeninteresse oder unterwirft sich bereitwillig dem jeweils dominanten Diskurs, den im Fall Müller und Folkerts der autorisierte Berichterstatter Orlet vorgab.
Wer nicht einmal den geringsten Versuch macht, Texte in ihren Wirkungsabsichten zu durchschauen und sie mit einem übergeordneten Kontext in Zusammenhang zu setzen, der ist generell zur Analyse und Beurteilung sozialer Prozesse, insbesondere auch strafrechtlicher, unfähig. Im besonders auffälligen Fall Deckert/Orlet hat sich diese Unfähigkeit des Richters Müller und der Richterin Folkerts zudem einmal mehr als gefährlich erwiesen.
Ich bin aus Gewissensgründen nicht bereit, meiner Tätigkeit als Schöffe in einer Strafkammer nachzukommen, die mit den Richtern Orlet, Müller oder Folkerts besetzt ist. Darüber hinaus weise ich ausdrücklich darauf hin, daß ich nicht von meiner sonstigen Tätigkeit als Schöffe entbunden werden möchte. Matthias Kruse, Mannheim
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