Wortreich und zahnlos

Clintons Ansprache zur Lage der Nation vor republikanischer Mehrheit geriet arg harmoniebedürftig  ■ Von Andrea Böhm

Washington (taz) – Politik hat im Zeitalter der O.J.-Simpson-Manie einen schweren Stand. Insofern konnte US-Präsident Bill Clinton am Dienstag von Glück reden, daß die Eröffnung des Mordprozesses gegen O.J. Simpson schnell vorüber war und nicht mit seiner jährlichen Ansprache zur Lage der Nation kollidierte.

Geschlagene 82 Minuten sprach der Präsident zu Volk und Parlament – wieder einmal zu lang, wie viele fanden. Da half es auch nicht, daß Clinton seinem obligatorischen Rückblick auf die US-amerikanische Geschichte von Alexis de Toqueville bis Ronald Reagan den Ausblick in das „Information Age“ und die epochalen Wandlungen auf dem Weg ins 21. Jahrhundert folgen ließ – ein Thema, das derzeit von seinem republikanischen Gegenspieler, dem Science- fiction- und Raumfahrtfan Newt Gingrich rhetorisch besetzt wird.

„Man kann nicht erwarten, daß einem die Leute 82 Minuten lang gespannt zuhören“, erklärte ein Fernsehkommentator nach der Ansprache, „es sei denn, man erklärt den Dritten Weltkrieg.“ Was Clinton nicht tat. Im Gegenteil – seine Rede war von der Suche nach Konsens und Kompromissen mit der neuen republikanischen Mehrheit im US-Kongreß gekennzeichnet. Seine Forderung nach „weniger Staat“ wurde mit einer stehenden Ovation quittiert. Dieselben Leute klatschten Minuten später ebenso frenetisch, als der Präsident eine „nationale Kampagne“ gegen die steigende Zahl von Schwangerschaften bei Teenagern ankündigte.

Der Präsident wiederholte seinen Vorschlag einer „Bill of Rights“, eines „Grundrechtekatalogs“ für die Mittelschicht, der Steuererleichterungen und Steueranreize für Aus- und Weiterbildung vorsieht. Bestimmendes Thema aber war das Credo, das seit dem Sieg der Republikaner bei den Novemberwahlen 1994 die Debatte beherrscht: weniger Staat, weniger Steuern. Clinton gab sich alle Mühe, die Urheberschaft für diese Losung in Anspruch zu nehmen. Er pries das von Vizepräsident Al Gore geleitete Programm zur Straffung der Bundesbürokratie, in dessen Rahmen bereits 300 staatliche Programme und 100.000 Stellen dem Rotstift zum Opfer gefallen seien.

Geht es jedoch nach den Republikanern, so ist erneut eine Ära der radikalen Deregulierung angebrochen. Im Repräsentantenhaus wird derzeit ein Gesetzentwurf diskutiert, wonach ein Moratorium den Erlaß weiterer Bundesrichtlinien – vom Umweltschutz über Lebensmittelkontrolle bis zum Katastrophenschutz – bis auf weiteres stoppen und alle von der Clinton- Administration erlassenen Richtlinien auf Eis legen soll. In seiner Rede beließ es der Präsident bei einer sanften Warnung vor übertriebener Deregulierung.

Nur bei zwei Reizthemen grenzte er sich deutlich von der Opposition ab: in der Frage der Waffenkontrolle und des Mindestlohnes. Eine Rücknahme des Verbots mehrerer Typen halbautomatischer Waffen werde er nicht zulassen, erklärte Clinton. Die Republikaner hatten angedroht, diesen Teil eines Gesetzes zur Verbrechensbekämpfung aus dem Jahre 1994 rückgängig zu machen.

Gegen Clintons Forderung nach einer Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes haben wiederum die Republikaner massiven Widerstand angekündigt, allen voran ihr Fraktionsführer im Repräsentantenhaus, Richard Armey. Das Weiße Haus hatte bereits vor Clintons Ansprache bekanntgegeben, daß man eine Erhöhung des Mindestlohns von derzeit 4.25 Dollar pro Stunde auf 5 Dollar befürworte – innerhalb der nächsten zwei Jahre. Das würde nach Ansicht Armeys Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich zerstören. Er werde sich mit „Haut und Haaren“ dagegen wehren. Der Mindestlohn gehört seit langem zum Forderungskatalog von Arbeitsminister Robert Reich, doch in den vergangenen zwei Jahren hatte die Clinton-Administration keinen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt. Am Dienstag nun verlangte der Präsident von den Abgeordneten, ein wenig Sinn für soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren. „Was Sie in den ersten 24 Tagen ihrer Amtszeit verdienen, verdient jemand auf Basis des Mindestlohns im ganzen Jahr.“