Die Zukunft von Auschwitz

James E. Young, Mitglied der Kommission, die von der polnischen Regierung nach der Wende zur Umgestaltung der Gedenkstätte Auschwitz eingesetzt wurde, über die Fragen, die sich bei einem solchen Vorhaben stellen

Inmitten des Tumults der Ereignisse vom Herbst 1989 berief der polnische Premierminister Tadeusz Mazowiecki in aller Stille eine Kommission ein, um die Zukunft des Museums und der Gedenkstätten in Auschwitz-Birkenau zu erörtern.

Vielleicht im Bewußtsein der Verletzlichkeit seiner Stellung als Staatschef wagte Mazowiecki offen anzusprechen, was andere Führer häufig zu verbergen trachten: den Wandel der offiziellen Erinnerung, wie er mit einem neuen Regime einhergeht. Und dann, in einem kühnen und versöhnlichen Schritt, bat der Premierminister eine Reihe jüdischer Gelehrter um Rat für die offizielle Umgestaltung der öffentlichen Gedenkstätten in Auschwitz.

Obwohl er inzwischen selbst der Geschichte angehört, setzte Mazowiecki eine vollständige Umstrukturierung der Gedenkstätten in Auschwitz in Gang. Unter seiner Leitung ernannte das polnische Kultusministerium einen Internationalen Auschwitz-Rat, besetzt mit Juden aus Polen, Israel und anderen westlichen Ländern sowie mit polnischen katholischen Intellektuellen und Regierungsbeamten. Der Rat erhielt den Auftrag, Museum und Gedenkstätten in Auschwitz umzugestalten und den Ruinen ihre stalinistische Tünche zu nehmen; seit seiner Bildung 1989 trat er mehrere Male zusammen. Unter geringer öffentlicher Anteilnahme hat er begonnen, sowohl die Erinnerung an den Holocaust in Polen als auch seine umstrittene historische Bedeutung neu zu definieren – buchstäblich neu zu formen.

Um diese Aufgabe vorzubereiten, lud das Zentrum für Hebräische Studien der Universität Oxford auf Anfrage des polnischen Kultusministeriums eine Gruppe jüdischer Intellektueller aus neun Ländern im Mai 1990 zu einer Tagung in Yarnton Manor ein, um über „die Zukunft von Auschwitz“ zu beraten. Unter Leitung von Jonathan Webber, der am Zentrum soziale Anthropologie lehrt und die kulturellen Aspekte der Erinnerung an Auschwitz untersucht, sollte dieses Gremium als inoffizielle Beratergruppe für den Rat fungieren.

Das Treffen in Yarnton 1990 selbst war eine bemerkenswert harmonische Angelegenheit: Ob dies auf die maßvolle und freundliche Atmosphäre des Schlosses und seiner Gärten zurückzuführen war oder auf die Sherry-Stunde am Nachmittag, kann ich nicht beurteilen. Aber nach drei Tagen heftiger Diskussionen formulierte diese Gruppe aus 27 jüdischen Universitätsangehörigen, Redakteuren, religiösen Führern und Überlebenden des Holocaust eine Liste mit sechs allgemeinen Prinzipien und 14 konkreten Vorschlägen als Anleitung für die Reorganisation des Museums und der Gedenkstätten in Auschwitz. Als es fertig war, übergab die Gruppe dieses Dokument – „Die Yarnton-Erklärung über die Zukunft von Auschwitz“ – persönlich dem stellvertretenden polnischen Minister für Kultur und Kunst.

„Die Yarnton-Erklärung über die Zukunft von Auschwitz“ mag sich in ihrer Tragweite nicht mit den Verträgen von Jalta messen lassen können, aber sie wirkte doch wie ein bedeutender Akt, ein Rahmen für die Beilegung der unpassenden „Gedenkstättenkriege“, die so lange über den Massengräbern von Auschwitz getobt hatten. Aufgrund seines offensichtlichen Konsenses könnte man dieses Symposium für eine Farce halten. Aber in Wirklichkeit wurde Einstimmigkeit niemals angestrebt. Es war vielmehr einfach das erste Mal, daß die polnische Regierung Juden eingeladen hatte, sich zusammenzusetzen und präzise die Art von Erinnerung zu definieren, die sie in Auschwitz bewahrt sehen wollen; zum ersten Mal hatten sie die Gelegenheit, den Polen eine Reihe öffentlicher Empfehlungen zu übermitteln.

Fast zwei Jahre später, im April 1992, traf sich die Yarnton-Gruppe leicht verändert erneut, dieses Mal direkt in Auschwitz sowie an der ehrwürdigen Universität der Jagellonen in Krakau, unter der Schirmherrschaft des Forschungszentrums für Jüdische Geschichte und Kultur in Polen. Sie setzte die Diskussion fort und versuchte nachzuprüfen, welche ihrer früheren Empfehlungen realisiert, welche abgelehnt worden waren. Was folgt, ist die kurze Beschreibung dieser Vorschläge durch einen der Anwesenden, ein Blick auf den Prozeß der Erinnerungsarbeit dieser Gruppe.

In der Yarnton-Erklärung hatten wir empfohlen, das Museum und die Gedenkstätten in Auschwitz-Birkenau sollten deutlich machen, daß

1. 1,6 Millionen Männer, Frauen und Kinder hier ermordet worden waren;

2. rund 90 Prozent der hier Ermordeten Juden gewesen waren und daß abgesehen von den Stämmen der Sinti und Roma nur die Juden wegen des „Verbrechens“, geboren zu sein, zum Tode verurteilt worden waren;

3. sehr viele Nichtjuden in Auschwitz starben, besonders Polen, und daß dieses Lager eine Schlüsselrolle bei der Nazi-Kampagne zur Vernichtung der polnischen Nation gespielt hatte;

4. die hier ermordeten Juden wie Nichtjuden aus allen Schichten und allen politischen Richtungen stammten, aus Dutzenden kultureller, religiöser und nationaler Traditionen; und daß

5. die Scheußlichkeiten von Auschwitz vom deutschen nationalsozialistischen Regime und seinen Kollaborateuren begangen wurden.

Schließlich schlugen wir vor, bei der Reorganisation des Musuems und der Gedenkstätten solle die von der polnischen Regierung eingesetzte Kommission soweit wie möglich die Organisationen der Überlebenden sowie andere Forschungsinstitutionen über den Holocaust konsultieren.

Zusätzlich zu diesen allgemeinen Prinzipien verabschiedeten wir weit weniger einstimmig eine Reihe praktischer, konkreter Vorschläge für den alltäglichen Betrieb der Gedenkstätte. Diese reichten von der Einrichtung einer Busverbindung zwischen Auschwitz-I und Birkenau bis zur Bereitstellung eines historischen Leitfadens für Besucher beim Betreten und Verlassen der Gedenkstätte; von der Überprüfung der bestehenden Inschriften und Hinweise bis zur Einrichtung einer „Halle der Namen“, in der ein fortlaufendes Band mit den Namen der Opfer abgespielt werden sollte. Wir schlugen außerdem vor, die Anwerbung und Ausbildung der Führer durch die Stätten zu vereinheitlichen, Besuchern ohne Führer Kassettengeräte und Kopfhörer anzubieten und im Museums-Restaurant ständig koschere Mahlzeiten bereitzuhalten.

Während des Treffens von 1990, nachdem wir Dias gesehen hatten, auf denen ausgelassene junge Touristen zwischen den Baracken von Auschwitz-I Eis und Süßigkeiten verschlangen, verlangte einer der britischen Teilnehmer die Einführung eines Kleidungs- und Verhaltenskodex. „Auf keinen Fall“, schoß ein Amerikaner zurück, der seinen Ohren nicht traute. „Wie sollen wir jährlich 700.000 Touristen aus aller Welt muffige westliche Kleidungsvorschriften aufzwingen? Wie sollen sich diese Touristen denn anziehen?“ Der Amerikaner gab zu, daß Kleidungsvorschriften britischen Besuchern vielleicht keine besondere Mühe machen würden oder auch den Polen, die häufig in ihrem Sonntagsstaat anreisen. Aber wenn man zum Beispiel Shorts und Sandalen verböte, könnte das Komitee damit automatisch jeden zweiten israelischen Besucher ausschließen. Als Kompromiß empfahlen wir, eine Mahnung zur Schicklichkeit zu veröffentlichen, um die Besucher daran zu erinnern, daß das Mahnmal zwar keine heilige Stätte ist, aber auch keine gewöhnliche Touristenattraktion.

Ein anderere Teilnehmer fragte pointiert, wie man denn Ruinen bewahren solle, die ihrem Wesen nach täglich mehr verfallen. Wie viel an Renovierung solle denn erlaubt sein, außer der Rekonstruktion der Gaskammern? Irgend jemand antwortete, vielleicht sollten wir das Lager überhaupt versiegeln, es als „Stadt des Bösen“ bezeichnen und es dadurch zu einem besonderen Ort machen, den man nur aus der Entfernung betrachten könne. Oder vielleicht sollten wir es als einen entheiligten Friedhof behandeln, der niemals wieder von Cohanim – der Priesterklasse der Juden – betreten werden dürfe. Andere fragten sich, was man mit den Verkäufern tun solle, die KZ- Andenken und Souvenirs anbieten. Aus einer Kultur kommend, in der „Gedenktagsverkäufe“ üblich sind, fragten sich einige von uns Amerikanern, wie man den Polen zumuten solle, ihren Unternehmergeist zu zügeln.

Einige Mitglieder der Gruppe waren mit der Bereitschaft angereist, sich am Kampf gegen den Konvent zu beteiligen, den die Karmeliternonnen 1988 vor den Toren von Auschwitz-I eröffnet hatten. Aber weil es bereits Pläne gab, den Karmeliterkonvent aus der unmittelbaren Umgebung des Lagers in seine neue Heimat in dem fast einen Kilometer entfernten katholischen Bildungszentrum zu verlegen, war die Gruppe in Yarnton erleichtert, daß sie sich mit diesem Thema nicht befassen mußte. Wir alle waren jedoch schockiert, als wir auf Dias die verfallenden Filmkulissen und zerbrochenen Zäune sahen, die Filmteams für „Triumph des Geistes“ und „Die Winde des Krieges“ hinterlassen hatten.

Jonathan Webber beruhigte die Gruppe, daß die Ersatz-Gaskammern und Krematorien tatsächlich innerhalb von Tagen nach seinen lautstarken Einwänden abgebaut worden waren. Dennoch schlug das Komitee vor, daß ohne Genehmigung des Rats und der Museumsverwaltung keinerlei materielle Veränderungen oder Neuerungen auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau vorgenommen werden dürften.

Als Akademikern und Historikern war den meisten unter uns der potentielle Mißbrauch historischer Artefakte bewußt. Insbesondere Ruinen lassen den Unterschied zwischen sich selbst und dem, was sie heraufbeschwören, zunehmend verblassen. Bröckelnde Krematorien und Baracken bieten sich Besuchern als physischer Beleg für fast jede begleitende Erklärung an. Wenn, wie es bis vor kurzem der Fall gewesen war, irrtümlich in Stein gehauen ist, daß „hier vier Millionen Menschen litten und starben“, dann bekräftigen die Ruinen auch das.

Aber wie uns der Historiker Michael Marrus in seinem Vortrag vor der Gruppe deutlich machte, starben in Auschwitz nicht vier Millionen Menschen. Die Historiker stimmen darin überein, daß die genaue Zahl der hier ermordeten Menschen niemals bekannt sein wird; am genauesten erscheint ihnen die Zahl von 1,6 Millionen Opfern, davon 1,3 Millionen Juden. Die restlichen 300.000 Opfer waren polnische Katholiken, Zigeuner und sowjetische Kriegsgefangene. Die Zahl von vier Millionen war ebenso falsch wie rund – sie entstammte einer Kombination aus den selbstverherrlichenden Übertreibungen des Lagerkommandanten, dem Bewußtsein der Polen von ihren ungeheuren Verlusten und dem Wunsch der sowjetischen Besetzer, sozialistische

Märtyrer zu schaffen. Es ist eine Zahl, die vielleicht Stalins eigene Verbrechen abmildern half, auch wenn sie Millionen polnische und sowjetische Opfer in Auschwitz schuf.

Damit hingen einige weitere umstrittene Punkte zusammen. Nachdem Stanislaw Krajewski, ein polnisch-jüdischer Führer, darüber informiert hatte, daß die alten Inschriften bereits aus den Hinweistafeln in Birkenau entfernt worden waren, standen wir vor dem Dilemma geteilter Gedenkflächen. Denn wie Michael Marrus uns erklärte, wurden die Baracken in Auschwitz-I (ursprünglich für die polnische Armee erbaut) in den ersten zwei Jahren ihres Betriebs zur Internierung polnischer politischer und Kriegsgefangener genutzt. Erst in den letzten zwei Jahren, vom Frühjahr 1942 bis Ende 1944, nachdem das Dorf Birkenau dem Erdboden gleichgemacht und statt dessen ein Todeslager errichtet worden war, war der Komplex nur noch der Tötung von Juden gewidmet. Die Polen sehen in Auschwitz den Beginn vom Ende ihrer Nation, die Juden erinnern sich an Birkenau als das Ende jüdischen Lebens in Europa. Wo sich Polen daran erinnern, daß jeder zweite Pole während des Krieges versklavt, verletzt oder getötet wurde, denken Juden an die Auslöschung von 90 Prozent des polnischen Judentums.

Wie also sollten Gedenkflächen geschaffen werden, die den vielfältigen Erinnerungen und Symbolen unterschiedlicher, gelegentlich sich überschneidender Gruppen Raum boten? Wie lauteten die richtigen Proportionen des zugewiesenen Raums, der zugewiesenen Bedeutung? Ist dies die Funktion einer Gedenkstätte, oder sollte sie es sein? Einerseits schien unerträglich, daß Juden unter den Kreuzen des Karmeliterordens begraben sein sollten, in jüdischen Augen einem Zeichen des christlichen Triumphalismus. Andererseits: Wenn wir Christen ihre traditionellen Formen der Erinnerung verweigerten, könnten wir auch verhindern, daß sie sich der jüdischen Opfer erinnern.

Wir waren uns einig, daß Auschwitz-Birkenau der Ort des größten Massenmordes an Juden in der Geschichte sei. Aber es lag auch in Polen, wo während der deutschen Besatzung etwa sechs Millionen Polen ums Leben kamen (die Hälfte von ihnen Juden). Auschwitz wäre aus geographischer Notwendigkeit eine Gedenkstätte in Polen, sowohl für polnische als auch jüdische Opfer, eine gemeinsame Gedenkstätte für die jüdische wie die polnische Katastrophe.

Im April 1992 nahm die Yarnton-Gruppe ihre Beratungen in Auschwitz-Birkenau wieder auf, mit neuem Elan und neuer Dringlichkeit aufgrund der schieren Macht des Ortes. Die Gruppe konnte nun selbst sehen, was in Auschwitz bewahrt, was verloren war; was der Auflösung überlassen worden war, was rekonstruiert. Am ersten Tag erlebten wir einen typischen, von Polen geführten Rundgang durch Auschwitz-I und seine Museen, bevor wir am nächsten Tag selbständig die ungeheure Ausdehnung Birkenaus erkundeten. Es folgten zwei volle Tage mit Workshops und Plenarsitzungen, in denen wir den gegenwärtigen Zustand der Gedenkflächen diskutierten und zusätzliche Empfehlungen erwogen. Am fünften und letzten Tag veranstalteten wir eine Pressekonferenz für die polnischen Nachrichten- und Fernsehmedien, bei denen wir unter der Bezeichnung „Krakauer Vorschläge“ neue Empfehlungen bekanntgaben.

In der gemäßigten, aber überzeugenden Sprache eines erfahrenen Gedenkdiplomaten brachte Jonathan Webber unsere Befriedigung über den Wandel zum Ausdruck, der seit unserem letzten Zusammentreffen vor sich gegangen war: Eine Buslinie verband nun Auschwitz-I und Birkenau; der Leitfaden für Besucher war verbessert und auf den neuesten Stand gebracht worden, um bisher unterdrückte historische Fakten zu berücksichtigen; neue Hinweistafeln in hebräischer Sprache waren aufgestellt worden, ebenso wie Ermahnungen, die Würde des Ortes zu respektieren. Gleichzeitig unterstrich Webber unsere Unzufriedenheit, daß es mit anderen Veränderungen nur langsam voranging. Das Museum zeigte noch immer nicht deutlich, daß 90 Prozent der Ermordeten Juden gewesen waren; es gab auch noch keinerlei Maßnahmen gegen die Aufstellung oder zur Entfernung ungenehmigter Hinweisschilder. Nichts war erfolgt, um den Reichtum des jüdischen Lebens in Europa vor dem Holocaust zu zeigen, noch das Leben danach in Israel und Amerika.

Auf unserem Rundgang durch die entlegensten Teile Birkenaus konnten wir sehen, daß die Filmkulissen tatsächlich verschwunden waren, daß es jedoch nach wie vor andere ungenehmigte Hinweisschilder gab. Einige Erinnerungszeichen, die junge polnische Freiwillige errichtet hatten, riefen in der Gruppe erstauntes Luftholen und ungläubiges Kopfschütteln hervor: Über eine große grüne Wiese, auf der sich früher Verbrennungsgruben und Massengräber befunden hatten, über Tonnen menschlicher Asche, waren große, weißgetünchte Davidsterne und Kreuze verteilt. An zwei Stellen hatten die jungen Polen versucht, ein Symbol der Solidarität zwischen jüdischen und polnischen Märtyrern zu schaffen, indem sie Davidsterne an die Kreuze genagelt hatten – tatsächlich hatten sie den jüdischen Stern gekreuzigt. Die Freiwilligen hatten gehofft, eine egalitäre „Verbindung“ der jüdischen und christlichen Symbole herbeizuführen, aber in jüdischen Augen wirkte das als ironischer und bitterer Bezug auf das Martyrium von Juden unter den Händen von Christen.

Mit diesen Bildern im Kopf kehrten wir in den Seminarraum in Krakau zurück. Alle stimmten zu, die Flächen sollten in ihrem gegenwärtigen Zustand bewahrt werden, und man müsse dafür sorgen, die weitere Verheerung von Auschwitz-Birkenau zu verhindern – sei es durch wohlmeinende Freiwillige, sei es durch Touristen auf Souvenirjagd oder durch amerikanische Museen, die nach Artefakten jagten. (Daß das U.S.-Holocaust-Museum eine der letzten hölzernen Baracken in Birkenau zersägen und abtransportieren ließ, hatte in der Gruppe einen besonders empfindlichen Nerv getroffen.) Wir wiederholten unsere frühere Empfehlung, daß von der Stätte nichts entfernt und keine der Flächen in irgendeiner Weise ohne die Zustimmung des gesamten Auschwitz-Rates verändert werden sollte.

Gleichzeitig brachten einige Mitglieder der Gruppe zum Ausdruck, daß ihnen die obsessive, fast schon fetischistische Verehrung eben dieser Überreste starkes Unbehagen bereitete. Der Literarhistoriker David Roskies zum Beisiel warnte leidenschaftlich davor, daß die Juden Auschwitz-Birkenau in einen Kreuzweg verwandelten, seine Überreste in Reliquien. Wir debattierten, ob die Teile als historische Belege bewahrt werden sollten oder als Überreste der Vergangenheit, mit denen bei den Besuchern das Gefühl erweckt werden sollte, dort gewesen zu sein. Als ein Mitglied der Gruppe fragte, ob wir die Überreste von Auschwitz in ihrer historisch exakten, ursprünglichen Form wiederherstellen sollten, um den vollen Schrecken des Holocaust zu vermitteln, antwortete ich, es sei wohl besser, die Ruinen in Ruhe altern zu lassen, um die ständig breiter werdende Kluft der Zeit zwischen uns und dem vergangenen Schrecken deutlich zu machen.

Die meisten Angehörigen der Gruppe brachten zwar ihren Respekt und ihre Bewunderung für die Arbeit des unterbezahlten und überarbeiteten Museumspersonals zum Ausdruck, waren aber doch der Meinung, es sei an der Zeit, sich mit der Ausbildung von jungen polnischen Führern auseinanderzusetzen. In ihrer Beherrschung der Fakten war unsere polnische Führerin Wanda beispielhaft gewesen. Aber ihr Kommentar gab nicht die jüdische Sicht von Auschwitz wieder und konnte es auch gar nicht. Wir schlugen daher vor, daß Lehrer aus Holocaust-Informationszentren in Amerika oder Israel angeworben werden sollten, um Ausbildungsseminare durchzuführen, damit auch die jüdische Sicht der Ereignisse erreicht würde, die noch immer nicht angemessen vermittelt wird.

Dann untersuchten wir die Ausbildung der jüdischen Führer, die häufig Gruppen aus Israel und Amerika begleiteten; wir kamen zu dem Schluß, daß sie ihren jüdischen Schützlingen tatsächlich nur selten die polnische Sicht vermittelten. In offenen Sitzungen mit dem Personal des Auschwitz-Museums wurden wir auf dieses Problem aufmerksam, als Wanda, höflich und sehr bemüht, ihre Gäste nicht zu beleidigen, davon berichtete, wie sie von wütenden jüdischen Jugendgrupen beschimpft worden war.

In ihrer Frustration und ihrer durch die Gedenkstätte entzündeten Wut hatten jüdische Besucher des Lagers begonnen, ihre polnischen Führer mit SS-Wachen zu verwechseln. Wir versuchten, Wanda zu erklären, daß für viele der jüdischen Besucher sich die Führer nur allzu häufig als nächstgelegene Ziele für ihre Wut und Frustration anboten, ebenso wie die polnische Bevölkerung der Umgebung und das Land selbst. Wir beschlossen außerdem, die Vorbereitung jüdischer Gruppen zu verbessern, um zu gewährleisten, daß sie genug von der polnischen Version wußten, um zwischen Nazi-Mördern und polnischen Opfern unterscheiden zu können.

Angesichts des überwältigenden Anteils der polnischen und christlichen Besucher in Auschwitz mußten wir anerkennen, daß Auschwitz-Birkenau notwendigerweise als gemeinsame Gedenkfläche fungieren müßte, an der polnische Katholiken sich als polnische Katholiken erinnern werden, auch wenn sie sich an jüdische Opfer erinnern. Als Juden sehen wir die Opfer nicht in einer polnisch-katholischen Märtyrer- Tradition. Aber wir können auch nicht erwarten, daß polnische Katholiken den Kaddisch der Trauer aufsagen. Wie Juden sich die Ereignisse in den Bildern ihrer Tradition in die Erinnerung zurückrufen, so werden sich Polen in den Formen ihres Glaubens erinnern. Das Problem ist vielleicht nicht, daß die Polen bewußt die jüdische Erinnerung an Auschwitz durch ihre eigene verdrängen, sondern daß in einem Lande, in dem es keine Juden mehr gibt, diesen Gedenkstätten kaum etwas anderes bleibt, als die polnische Erinnerung zu pflegen. In diesem Licht erkennen wir, daß Auschwitz Teil einer nationalen Leidenslandschaft ist, eine Koordinate unter anderen, zwischen denen Juden und Polen weiterhin ihr gegenwärtiges Leben im Lichte einer erinnerten Vergangenheit begreifen.

Angesichts all dieser Überlegungen ist mir klar, daß jede Vorschrift zu einer institutionellen Erinnerung in Auschwitz wie jede Gedenkstätte überhaupt provisorisch wäre. Die meisten unserer Vorschläge werden angenommen werden, andere weiter diskutiert, verbessert, ergänzt oder vielleicht auch abgelehnt. Tatsächlich erinnert uns der Prozeß selbst daran, daß keine Gedenkstätte, sosehr wir es ersehnen mögen, wirklich ewig ist: Jede wird geformt und verstanden im Kontext ihrer Zeit und ihres Ortes, wobei ihre Bedeutung der veränderlichen politischen Realität entspricht. Vielleicht wäre es die weiseste Lösung, in die Gedenkstätte in Auschwitz die Fähigkeit einzubauen, sich in neuen Zeiten, unter neuen Bedingungen zu verändern; die heutigen Bedeutungsformen dieses Ortes für uns deutlich zu machen und zugleich Platz für die neuen Bedeutungen zu schaffen, die dieser Ort mit Sicherheit für spätere Generationen annehmen wird. Denn sobald einmal deutlich wird, wie viele Menschen hier starben, aus welchen Gründen und unter wessen Händen, wird es die Aufgabe zukünftiger Generationen sein, ihre eigene Bedeutung in dieser Vergangenheit zu finden.

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning