„Angst ist das größte Risiko“

■ Als ideales Gebäralter gilt das Alter von 20 bis 24, doch immer mehr Frauen kriegen ihre Kinder jenseits der 35 / Ist das riskant?

„Alte Erstgebärende“ werden Schwangere ab 35 genannt. Das findet Diether Langnickel nicht besonders charmant. Der Direktor der Frauenklinik St.Jürgen-Straße nennt die Frauen über 35 lieber „ältere Erstgebärende“. Seine älteste Erstgebärende war im vergangenen Jahr eine 48jährige. Die habe er problemlos entbunden. So dramatisch, wie vor Jahren noch angenommen, sie das gar nicht mit dem Spätgebären. Und so stieg der Anteil der Spätgebärenden an allen Gebärenden in Norddeutschland zwischen 1987 und 1991 von 5,4 auf 6,8 Prozent, weiß Diethard Neubüser, Leiter der Frauenklinik des ZKH Bremen Nord.

Als „ideal“ fürs Kinderkriegen gilt vielen MedizinerInnen allerdings immer noch das Alter von 20-24. Denn das Risiko, eine Früh- oder eine Fehlgeburt zu erleiden, steigt bei Spätgebärenden auf fast das Doppelte. Außerdem kann die Geburt länger dauern. Auch halten ÄrztInnen bei Spätgebärenden häufiger einen Kaiserschnitt für notwendig: In der St. Jürgen-Straße liegt die Rate um 13 Prozent höher als bei jüngeren Frauen. „Aber heute hat man so viele Überwachungsmethoden“, sagt Langnickel, „man muß den Frauen die Angst nehmen. Die Risiken sind nicht wesentlich höher – also mal abgesehen vom genetischen Risiko.“

Doch genau dieses Risiko plagt viele Schwangere. Anette B.* zum Beispiel. Lange war ihr der Aufbau ihrer Töpferei wichtiger gewesen als ein Kind. Doch dann mit 38 und stabiler Beziehung: Kinderwunsch. Die Schwangerschaft schien ihr schon aufregend und riskant genug, ein behindertes Kind wollte sie unbedingt vermeiden. Der Arzt rät ihr zur Fruchtwasseruntersuchung, zur Amniozentese. Zu dieser Untersuchung raten heute fast alle ÄrztInnen Schwangeren ab 35.

Dabei werden die Chromosomen im Fruchtwasser auf Abweichungen untersucht. Feststellbar ist zum Beispiel die Trisomie 21, früher Mongolismus, heute Down-Syndrom genannt. Statistisch bringt bei den 30jährigen Schwangeren nur eine Frau von 1.000 ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt, bei den 40jährigen sind es zehn. Allerdings erleiden genauso viele 40jährige nach der Amniozentese eine Fehlgeburt, weil die Frauen zum Beispiel zuviel Fruchtwasser bei der Untersuchung verloren, schreibt Eva Schindele in ihrem Buch „Die gläserne Gebärmutter“.

Anette B. schreckte die Vorstellung eines behinderten Kindes jedoch mehr. Diese Untersuchung kann allerdings erst im fünften Monat gemacht werden. Im fünften Monat aber spürte sie schon die Tritte des Kindes. Also verbot sie sich jedes Gefühl. Was wäre, wenn die Untersuchung eine genetische Abweichung ergäbe? „Freu dich lieber noch nicht“, sagte sie sich, ließ sich auch keine Babykleidung schenken. Dann endlich die Untersuchung. Eigentlich sollte Anette B. nach zwei Wochen das Ergebnis haben. Doch die Zellkultur ging nicht an. Anette B. mußte weitere zwei Wochen warten. „Diese Zeit – und dann wirklich noch abtreiben? Undenkbar“, sagt sie heute. Heute würde sie nur noch die früher gelegene Untersuchung, die Chorionzottenbiopsie machen – dabei werden Chromosomen aus dem kindlichen Ende der Nabelschnur analysiert. Allerdings ist diese Methode jetzt in Mißkredit geraten, weil englische ForscherInnen vermehrt Gesichtsfehlbildungen bei Kindern nach Chorionzottenbiopsie festgestellt haben. Auch ist das Fehlgeburtsrisiko erheblich höher.

Auch Emily R., die ihr Kind mit 41 bekam, machte eine Amniozentese – obwohl sie Behindertenpädagogin ist. Mit Arbeit versuchte sie, sich während der Wartezeit abzulenken. Scheinbar erfolgreich. Als das Ergebnis da war – „alles in Ordnung“ –, brach sie zusammen, geschüttelt vom Weinkrampf. Heute würde sie eine Amniozentese ablehnen. Eva (35), gerade in der achten Woche, weiß schon heute, daß sie keine Amniozentese machen will. „Eine Behinderung wäre natürlich nicht so schön, aber ich nehme das Kind an, so wie es dann ist. Außerdem habe ich jetzt schon eine richtige Beziehung zu ihm.“

Vera dagegen, die ihr erstes Kind mit 35 bekam, fand den Zeitpunkt der Untersuchung und die Wartezeit auf das Ergebnis zwar „schrecklich“, hätte aber auch die Unsichheit über die Gesundheit des Embryos nur schwer ertragen: „Ich war damals alleinerziehend – ein Kind mit Trisomie 21 wäre wirklich heftig gewesen, für so eine Fulltime-Betreuung muß man ja auch das finanzielle Auskommen haben“. Für viele Schwangere aber bedeutet die Amniozentese einen Entscheidungskonflikt, bei dem sie sich alleingelassen fühlen, sagt Ebba Kirchner von der einzigen unabhängigen Beratungsstelle für vorgeburtliche Diagnostik, „Cara“.

Trotzdem nimmt mittlerweile mehr als die Hälfte der Spätgebärenden diesen Test auf sich, sagt der Direktor der Frauenklinik am Zentralkrankenhaus Bremen Nord, Diethard Neubüser. Wird eine genetische Abweichung gefunden, egal welchen Schweregrades, sind viele Frauen so verunsichert, daß sie sich in über 90 Prozent der Fälle für einen Abbruch entscheiden. Was ein Abbruch im 5. Monat bedeutet, wird den Frauen jedoch vorher selten gesagt. „Da kann ja nicht mehr abgesaugt oder ausgeschabt werden, man leitet mithilfe von Wehenmitteln eine Geburt ein“, sagt Ebba Kirchner von „Cara“. Da der Körper aber auf Festhalten eingerichtet sei, könne sich die Geburt über mehrere Tage hinziehen. „Das ist für ganz viele Frauen ein Trauma und ein gesellschaftliches Tabu.“ Das Gefühl der aktiven Tötung sei viel größer als bei einem Abbruch in den ersten drei Monaten.

Trotz des prinzipiell höheren genetischen Risikos bei älteren Schwangeren liegt die Fehlbildungsrate der dann tatsächlich Geborenen niedriger als bei Kindern von Junggebärenden, sagt Prof. Langnickel vom ZKH St.Jürgen-Straße. Grund: Bei den Älteren würde eben „einiges herausgefiltert durch die gute Genetik“, sprich die Amniozentese. Er habe aber auch PatientInnen gehabt, die das behinderte Kind trotzdem zur Welt bringen wollten. Eine kommt gelegentlich mit ihrem Kind zu Besuch. Langnickel: „Das ist ein ganz liebes Kind.“

MedizinkritikerInnen weisen immer wieder darauf hin, daß das genetische Risiko viel zu hoch gehängt werde. Die meisten Behinderungen bei Neugeborenen entstünden nicht durch genetische Abweichungen, sondern während Schwangerschaft oder Geburt. Und ob Schwangerschaft und Geburt komplikationslos verlaufen, hänge wesentlich von den Lebensverhältnissen und dem psychischen Befinden der Frau ab, sagt etwa Eva Schindele. Seelische Stabilität sowie sichere finanzielle Verhältnisse bringen gerade die älteren Erstgebärenden häufig mit.

Um den risikomindernden Faktor Gelassenheit zu fördern, traktieren die MitarbeiterInnen der „Hebammenpraxis Bremen“ die Schwangeren mit möglichst wenig Technik. Tastuntersuchungen ersetzen viele der Ultraschalluntersuchungen. Wahrnehmungsübungen stärken das Vertrauen der Frauen in ihren Körper, so daß sie selbst spüren, ob „was nicht in Ordnung“ ist. „Angst“, sagen die Hebammen, „Angst ist nämlich das allergrößte Risiko“. Christine Holch

* Die Namen der Schwangeren sind von der Red. geändert.