■ Warum dieses Mitgefühl der Maßgeblichen dieser Welt für Rußland?
: Die Angst vorm russischen Strudel

Rußland lehrt die Welt wieder das Fürchten. Wie gehabt, nur diesmal stößt es auf Sympathie und vollstes Mitgefühl der Maßgeblichen dieser Welt. Die Machtkumpanei, das Zusammenspannen der Großen, von Clinton über Kohl bis Jelzin, muß erschrecken – und erinnert, nebenbei gesagt, an die Menschenhandelsdiplomatie der Großmächte des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Wenn Peter Glotz nun in der jüngsten Ausgabe der Wochenpost die deutsche Außenpolitik der Romantisiererei bezichtigt, legt er einen wahren Kern frei. In der Tat zeigt sich in der deutschen Haltung zum Tschetschenienfeldzug nicht nur Ratlosigkeit, sondern auch ein illusionärer „Traum von dem, was Rußland eigentlich ist“. Eine Projektionsfläche intellektueller Verstiegenheiten, die dem permanenten Elend der Menschen, dem unausrottbaren Byzantinismus und der Unfähigkeit seiner Politiker, dieses Land zu regieren, so etwas wie eine eigenständige und faszinierende Ästhetik abgewinnen können. Dieser Traum ist gefährlicher, folgenreicher als jener, den Glotz mit „unkritischer Sympathie für das sogenannte Selbstbestimmungsrecht“ umschreibt.

Der Tschetschenienkonflikt verlangt zunächst keine Thematisierung des Selbstbestimmungsrechts. Brutalität und Menschenverachtung, die diese Strafexpedition stigmatisieren, stehen für sich. Rußlands territoriale Integrität gab nur zum Auftakt der Kremlpropaganda die Tonart vor. Da diese im eigenen Volk nicht verfing, wechselte man sie aus, doch blieb bei Dur. Nicht ein Rechtfertigungsversuch passierte die Öffentlichkeit. Nur Bonn und Washington sind Gläubige. Subjekte der Föderation wie Baschkortostan, Tartastan und Sacha (Jakutien), die in gleiche Richtung tendierten, haben sich nach anfänglichen Rangeleien mit Moskau arrangiert. Hätte der Kreml nur gewollt, wäre auch Grosny auf Kurs gebracht worden. Ob mit oder ohne Dudajew. Weder wirtschaftliche, militärische noch politische Gründe sprachen für eine kriegerische Intervention. Moskau konnte den kaukasischen Duce drei Jahre lang wursteln lassen, wie er es wollte. Es hätte noch 20 Jahre so weiter laufen können, ohne daß der Kreml in Mitleidenschaft gezogen worden wäre.

Der Krieg wurde vom Zaun gebrochen, um die innenpolitischen Gewichte zu verlagern. Die national-kommunistische und faschistische Opposition möchte das Rad zurückdrehen, sekundiert vom gefräßigen militärisch-industriellen Komplex. Demokratie sagt ihnen nun mal nicht zu. Und wir schauen zu. Man stelle sich vor, im Westen würde ein ganzes Volk – wie die Tschetschenen und in abgeschwächter Form alle anderen kaukasischen Völkerschaften Rußlands – zur Ausgeburt eines Verbrechertums stilisiert. Und das eingedenk ihrer Deportation und Massenvernichtung unter Stalin 1944! In Grosny geht es um die Wahrung universeller Menschenrechte, auf die die alten sowjetischen Kremlhaubitzen – es sind dieselben wie früher – pfeifen. Von Selbstbestimmung kann erst danach die Rede sein.

„Machiavellismus“ ist in einer ganz anderen als der Glotzschen Variante gefordert. Man muß dem Kreml die Knute zeigen, eine andere Sprache versteht er nicht. Es sind die Liberalen in Rußland, die sich in diesem Sinne heiser schreien, aber im Westen will sie wieder keiner hören. Tut dies Europa nicht, dann gerät es, analog zum Glotzschen Szenario, unweigerlich mit in den russischen Strudel. Das Massaker forciert seine eigene Logik: Der Kreml kann die Sezession des Kaukasus längerfristig nicht aufhalten. Er hat sie aus niederträchtigen Beweggründen selbst verschuldet. Jeder weitere blutrünstige Tag ruft die anderen Völker auf den Plan. Und schließlich die gesamte islamische Welt. Ein Inferno, apokalyptischer als jener niedliche nationalstaatliche Machiavellismus vergangener Epochen. Sind wir dem Kreml diese Solidarität schuldig? Nein, man muß ihn vor sich selbst schützen. Soviel Zuwendung hat er gerade noch zu erwarten. Klaus-Helge Donath, Moskau