Kurschatten medizinisch erwünscht

■ Der Weg zur Kur ist für junge Menschen oft lang, die Klink wird als Hort der Einsamkeit empfunden. Trotzdem „Traumzeit“?

Im Oktober 91 wies der Körper von Carla N. (Name geändert) alle Symptome einer Hepatitis auf. Schon seit Monaten litt die 32jährige unter massiven Schlafstörungen, fühlte sich körperlich erschöpft, zitterte am ganzen Körper und war quittengelb. Ein Gelbsuchterreger konnte jedoch bei ihr nicht festgestellt werden.

Das letzte Ergebnis unzähliger Untersuchungen hieß schließlich: Morbus Meulengracht, eine Stoffwechselerkrankung, die auf einen Enzymfehler in der Leber zurückgeht. Der ist angeboren, seine Folgen treten normalerweise in der Pubertät auf und verschwinden dann für gewöhnlich wieder. Die späte Aktivierung des Morbus, hieß es, sei bei Carla N. für Länge und Schwere der Krankheit verantwortlich. Der Hausarzt empfahl der erschöpften Patientin eine Kur.

Carla N. füllte die Antragsformulare aus und begab sich vorschriftsmäßig zum Gutachter. Dieser bezweifelte die Diagnose, sprach sich aber angesichts der Verfassung seiner Probandin ebenfalls für die Kur aus. Umso mehr staunte Carla N. über den schriftlichen Bescheid. Dem Antrag, hieß es da, werde nicht stattgegeben, da es sich bei Morbus Meulengracht um eine unheilbare Krankheit handele. Carla N. legte Widerspruch ein mit der Begründung: „Ich weiß nicht, ob ich Morbus Meulengracht habe, aber ich will mich in jedem Fall von der Schwäche erholen.“

Auch der nächste Gutachter erklärte zunächst die Notwendigkeit eines Kuraufenthaltes, überwies aber vorsicherheitshalber weiter an einen Leber- und Gallenspezialisten. Ebenfalls unsicher in der Diagnose, schickte dieser Carla N. schließlich zu einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Nach einem langen Gespräch über die Kindheit, „eine richtige Gehirnwäsche“, erinnert sich Carla N., meinte die Ärztin, die Krankheit könne psychosomatisch bedingt sein. Ein halbes Jahr später wurde einer sechswöchigen Kur stattgegeben, in einer psychosomatischen Klinik.

Carla N. lehnte ab. „Ich lasse die nicht in meiner Psyche wühlen“, beschloß sie. Verunsichert über die verschiedenen Erklärungen ihrer Krankheit hatte sie bereits vier Jahre Therapie hinter sich. „Ich glaubte doch zwischendurch selbst schon, daß alles nur eingebildet ist.“ Beinahe froh war sie daher über den Erreger gewesen, den ein der Naturheilkunde nahestehender Arzt kurz vor dem Kurbescheid als Verursacher der Krankheit festgestellt hatte. Im Sommer 94 wurde Carla N. endlich eine vierwöchige Erholung gewährt, allerdings in einer Kurklinik für Orthopädie. Warum man sie ausgerechnet dorthin verfrachtete, versteht die Patientin bis heute nicht.

Carla N. bekam eins der schönsten Einzelzimmer, wahrscheinlich aufgrund ihres Doktortitels, vermutet sie. Sie war froh, nicht in einer dieser „Malocher-Fabriken mit 800 oder mehr Betten“ untergebracht zu sein, sondern in einer überschaubaren 180-Betten-Klinik. Angestellte zwischen 40 und 50 Jahren wandelten über die Gänge, es ging gediegen zu. Perfekte Kleidung gehörte zum guten Ton, der Jogginganzug war im Speiseraum tabu. Über die Wochen bildeten sich feste Tischgruppen, Neulinge wurden schnell integriert. „Alle bemühten sich“, das Klima war freundlich. Carla N., mit 32 Jahren die jüngste Patientin, schloß sich jedoch nicht an: „Dadurch war ich oft allein, und meistens, aber nicht immer, gern. Es war halt einfach nicht meine Szene.“

Die Klinikärztin verschrieb der ausgemergelten Patientin vier bis sechs Anwendungen täglich: Moorbäder, Massagen, Gymnastik, Konditions- und Entspannungstrainig. „Das kam mir durchaus entgegen, aber ich war abends so fertig, daß ich mich ziemlich früh zurückziehen mußte.“ Obschon die Klinik kein Freizeitangebot für jüngere Menschen zu bieten hatte, verzichtete Carla N. darauf, mit den anderen zum allabendlichen Volkstanz ins Dorf zu ziehen. Von sieben bis zehn Uhr durfte sich dort das sonnige Gemüt am Kurschatten wärmen, bevor die Sperrstunde der Klinik für Verschlossenheit sorgte.

Also ist, den Beschwörungsformeln der Krankenkassen zum Trotz, am Kurschatten doch was dran: „Selbst bei denen, die gerade erst angereist waren, gab es sofort Affairen! Wer mit wem, war ruckzuck klar.“ Die Ärzte, meint Carla N., hätten das sehr wohl registriert. „Das wurde sogar gefördert, alle wußten das, und die Ärzte gingen offensichtlich davon aus, daß das den Heilungsprozeß fördert.“ Carla N. machte da ebensowenig mit wie der einzige ausländische Mitpatient. Ihre Kur hat sie trotzdem genossen: „Es hat mir total gut getan, es war eine richtige Traumzeit.“

Dora Hartmann