Der Kelch vom Elch

■ Zwei Stunden Abrechnung mit dem Kleinbürgeridyll in der Raststättentoilette: Frank Castorf inszeniert Elfriede Jelinek in Hamburg-St. Georg

Venezolanische Straßendirnen flüchten vor arktischem Wind wärmesuchend in verpißte Hauseingänge, vis-à-vis verscherbeln 14jährige Rumänen ihren Körper, um sich mit Heroin in eine bessere Welt zu beamen – nach Möglichkeit meidet der Durchschnittshamburger St. Georg. In diesem Viertel am Hauptbahnhof, das Sündigkeit nicht nur vorgaukelt wie die Reeperbahn, vollzieht sich das wahre Leben als die Ware Leben. In edles Tuch gekleidet wagt die hanseatische Bourgeoisie nur dann die Grenzüberschreitung, wenn im Deutschen Schauspielhaus der Bühnenvorhang sich öffnet.

Frank Castorf, der Berufsprolet und Interview-Beelzebub, hätte sich einen besseren Ort zum Werben und Wirken nicht aussuchen können. Er hat seiner Berliner Volksbühne für einen Moment den Rücken gezeigt und ist in St. Georg fremdgegangen. Dort hat er sich mit und an Österreichs Elfriede Jelinek verlustiert – was dem deutschsprachigen Theater einen hochansehnlichen Erfolg beschert und ein dream team der Bühne hervorgebracht hat. Nachdem Wiens Burgtheater-Boß Claus Peymann die Uraufführung von Jelineks „Raststätte oder Sie machens alle“ als leb- und witzlose Banalität inszeniert hat, konnte nur noch Verzweiflungsspezialist Castorf dem Stück die Reputation einimpfen, die ihm gebührt. Außerdem inszeniert Castorf Stücke, die er nicht mag, am liebsten. Hat er gesagt. Und Recht behalten.

Isolde und Claudia, zwei sexuell frustrierte und nach dem ultimativen Exzeß hungernde Ehefrauen, verabreden sich auf dem Klo einer Autobahnraststätte namens „Zwillingsgipfel“ mit zwei Männern per Kontaktanzeige zum rasenden Verkehr. Am Elch- und Bärenkostüm sollen die leistungswilligen Bei- und Bespringer zu erkennen sein. In der artifiziellen Sprache der Jelinek dürstet die Frauen danach, „den Kelch von einem Elch und das Gewehr von einem Bär auszutrinken“, in Vorfreude auf das Gefühl, „das Tier in sich zu spüren“, befeuchten sie ihre „nach Wurstbelag klaffenden Semmeln“ und füllen dem Wunsch der tierischen Begatter gemäß ihren Natursekt in Bierflaschen ab. Auf Klos, die zugeschissener nicht sein könnten.

Notdürftig mit Kleenextüchern gereinigt, skandieren die eloquenten Kleinbürgerinnen mit der großen, alles konsumierenden Lust die Losung des Tête-à-tête: „Spaß und Vögeln! Spaß und Vögeln!“ Sie wollen außerdem „sahnige Lippen“ in sich „aufbrechen“ fühlen, zwischen Klobürsten und Haschee ihren akut langweiligen Alltag ad acta legen.

Doch die Ehemänner Kurt und Herbert bekommen von der Sache Wind und luchsen Elch und Bär die Felle ab. Den Oberkörper mit Schafsblut balsamiert und den Kopf in einen Frauenstrumpf gequetscht, mimen die Spießgesellen die eigentlichen tierischen Toilettenstecher. Was erstens die Frauen herb enttäuscht und zweitens zum Schluß dann doch rauskommt. Ein modernes Cosi fan tutte also, aufgepeppt durch Statisten, die als sexbesessene und „fremdbestimmte“ (Castorf) Spießbürger durch die trostlose Raststättenrealität toben, die im Hamburger Schauspielhaus aus Sperrholzplatten und leicht abwischbaren Kachelwänden komponiert ist.

Peymann hat Jelineks Kleinbürgerkomödie und trübseligen Alltagssporn mißverstanden und zu ernst genommen, Castorf ihr eine herrlich-häßliche Dimension verpaßt, oft brüllend komisch, manchmal tieftraurig. „Ich will verschmutzt werden!“ lautete Claudias Appell in der Kontaktanzeige – und fällt in einen voluminösen Scheißhaufen. „Ohne Leistung geht es nicht!“ brüllt Kurt im Brunftfieber und macht sich das Motto der CDU zu eigen, mit dem sie seit ihrer Gründung in Wahlkabinen lockt. Die Ehemänner mit den Helge-Schneider-Perücken und einem Born-to-be-wild und Forever-young auf ihren Hühnerbrüsten, die Ehefrauen mit den silberblonden Langhaaren und den Flokatimänteln: Großkotzig zitieren sie aus Goethes „Zauberlehrling“ und lassen sich vom Kellner im Bastrock in Schillers „Schaubühne als moralische Anstalt“ unterweisen. Dabei lassen alle die Sau nur sprachlich raus, die Maulhuren und großkotzigen Angeberarschlöcher. Deutschland privat ganz öffentlich.

Nach vollzogenem Akt, artistisch-affenartig, kehrt Ruhe ein auf dem Abort, besinnliche Katerstimmung. Alle murmeln, erschöpft noch, postkoitale Reminiszenzen vor sich hin. Das soll's gewesen sein, der Kick, das Tor zum Glück? Für Castorf sind die Deutschen auf Abwegen, und das demonstriert er in all seinen Stücken. Auf der Suche nach Sinn und Selbst verheddern sie sich in Video- und Wollustwelten, bis zum Erbrechen bigott.

Elfriede Jelinek verband große Hoffnung mit Castorfs Regiewut – er möger respektloser sein als Peymann. Sie sollte nicht enttäuscht werden. Am Schluß rollt auf dem Laufband eine Sexpuppe de luxe aufs Herrenklo, mit blinkenden Brüsten und blinkender Scham. Sie trägt das Haar zum Dutt, schwarzes Sakko und schwarzen, bodenlangen Rock: Es ist die Jelinek. Im wienerischen Tremolo foltert sie das Publikum mit moralinsauren Weisheiten einer Suffragette über Wahrheit, Tugend und den Untergang der Welt.

Castorf, 43, hat Elfriede Jelinek, 49, für voll genommen: Respektlos fährt er ihr über den Mund. Zwei Stunden braucht Castorf, um mit dem Kleinbürgeridyll abzurechnen. Danach überläßt er es wieder sich selbst – und den venezolanischen Straßendirnen. „Na Kleiner, hast Du nicht ein bißchen Zeit für mich?“ Thorsten Schmitz