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Gefangene eines kalten Friedens

Nordirlands IRA-Häftlinge warten noch auf die Früchte der Waffenruhe, die sie 1994 maßgeblich mitgestalteten  ■ Von Ralf Sotscheck

Es ist kalt in dem kleinen Raum im Erdgeschoß des Belfaster Sinn- Féin-Büros. Auf Holzbänken an den Längswänden sitzen Frauen in Wintermänteln, in der Ecke stehen ein paar Kinder. Ein Grauhaariger im hellen Schafwollpullover beobachtet den Monitor neben der Tür, auf dem der Fußweg vor dem Haus zu sehen ist. Wer das Gebäude betreten will, wird zunächst in den Flur vorgelassen. Dort muß man sein Anliegen vorbringen. Danach öffnet der Grauhaarige entweder die Tür zum Raum im Ergeschoß oder per Knopfdruck das Eisengitter am Fuß der Treppe.

Die meisten Besucher kennt der Alte freilich, so daß die Sicherheitsprozedur entfällt. Viele der Frauen, die in dem kalten Raum warten, kommen schon seit Jahren regelmäßig. Von hier fährt jeden Tag ein Kleinbus nach Long Kesh, dem Gefangenenlager 25 Kilometer südlich von Belfast.

Die Fahrten werden von „Republican Prisoners Welfare“ organisiert, der Wohlfahrtsabteilung von Sinn Féin. Der Fahrpreis beträgt umgerechnet nur 1,20 Mark. Dennoch ist es für die Frauen meist sehr aufwendig, ihre gefangenen Väter, Ehemänner oder Söhne zu besuchen, weil sie zu Hause für den Alltagsablauf verantwortlich sind und oft Kinder zu versorgen haben.

Die 25jährige Mary, deren Mann Sean 1991 zu zehn Jahren Gefängnis wegen Waffenbesitzes und IRA-Mitgliedschaft verurteilt wurde, fährt jeden Freitag nach Long Kesh. Ihre beiden Kinder gibt sie bei ihrer Schwester ab. „Ich freue mich die ganze Woche auf den Besuchstag“, sagt sie. „Offiziell haben wir nur eine halbe Stunde, aber es stört niemanden, wenn wir überziehen.“

Von der Autobahn M1 kann man in der Ebene südlich von Belfast die acht H-förmigen Gebäude erkennen, die von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben sind. Es gibt wohl kein Bauwerk, das in dem an Sinnbildern gewiß nicht armen Nordirland-Konflikt eine größere Symbolkraft besitzt als „The Maze Prison“, wie Long Kesh offiziell heißt. Der Unterhalt des Gefängnisses kostet 42 Millionen Pfund im Jahr (100 Millionen Mark). Der Gebäudekomplex beherbergt mehr als 600 politische Gefangene, fein säuberlich nach Organisationszugehörigkeit segregiert. Offiziell gelten sie zwar als „normale Kriminelle“, seit der politische Status 1976 abgeschafft wurde, doch haben sie eine Sonderstellung. Jeder H-Block hat einen Billardtisch, einen Mikrowellenherd und einen Fitneßraum. Die Gefangenen dürfen ihre eigene Kleidung tragen und organisieren Tagesablauf und Fortbildungskurse weitgehend selbst.

Das gilt auch für die 130 protestantisch-loyalistischen Gefangenen, die damit von dem Hungerstreik ihrer Erzfeinde profitiert haben. Denn die Haftbedingungen wurden erst nach dem berühmten Hungerstreik der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und der kleinen Abspaltung Irisch-Nationale Befreiungsarmee (INLA), bei dem 1981 Bobby Sands und neun weitere Gefangene starben, humanisiert. Radikale britische Tory- Hinterbänkler sprechen nun von einer „Universität des Terrorismus“, die sich unter den Augen des Staates gebildet habe.

Viele Mitglieder der heutigen Führungsspitze Sinn Féins haben in Long Kesh gesessen und irische Geschichte, Sprache und Kultur „studiert“ – darunter auch Gerry Adams, der Sinn-Féin-Präsident. Es gibt zur Zeit 560 IRA-Gefangene. 469 sind in Long Kesh eingesperrt, 100 davon Untersuchungshäftlinge. 42 IRA-Männer sitzen im südirischen Gefängnis Portlaoise, 23 in englischen Knästen, 8 in den USA und 4 in Deutschland. 14 Mitglieder von Cumann na m Ban, der Frauenorganisation der IRA, sind im nordirischen Frauengefängnis Maghaberry untergebracht.

Die IRA-Gefangenen genießen – ebenso wie die loyalistischen Häftlinge – im eigenen politischen Lager hohes Ansehen. In den nordirischen Ghettos gibt es kaum eine Familie, die keinen Verwandten im Gefängnis hat. So führt bei wichtigen Entscheidungen kein Weg an den Gefangenen vorbei. Der IRA-Waffenstillstand wäre niemals ohne ihre Zustimmung zustande gekommen. Der britische Geheimdienst hatte bereits 1993 aus abgefangenen Briefen die Erkenntnis gezogen, daß die IRA- Gefangenen auf ein Geschäft mit der britischen Regierung drängten – zur Not auf Kosten des bewaffneten Kampfes.

„Sinn Féin hält ständigen Kontakt zu den Gefangenen und informiert sie über den Stand der Diskussionen draußen“, sagt Michael Brown von der „Abteilung für Kriegsgefangene“. Zum einen besuchen Parteimitglieder einzelne Gefangene oder rufen sie im Gefängnis an, zum anderen werden Nachrichten durch Verwandte übermittelt. „Wer mehr als elf Jahre einsitzt oder im letzten Haftjahr ist, hat ein Anrecht auf vier Tage Freigang im Sommer und sechseinhalb Tage über Weihnachten“, sagt der 50jährige Sinn-Féin- Angehörige Fergal, der selbst ein paar Jahre in Long Kesh verbracht hat. „Dadurch bleiben die Gefangenen auf dem laufenden und können an den Diskussionen draußen teilnehmen. Für die IRA-Gefangenen in England, den USA und Deutschland besteht diese Möglichkeit nicht.“

Einer der bekanntesten Gefangenen in Long Kesh ist Danny Morrison. Er war Direktor für Öffentlichkeitsarbeit und Vizepräsident von Sinn Féin, als er 1991 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß Morrison einen Polizeiagenten in einem Haus in West-Belfast gewaltsam festgehalten hatte. Morrison gilt als Erfinder der IRA-Sinn-Féin-Doppelstrategie „die Wahlurne in einer Hand, das Gewehr in der anderen“. Offenbar hatte er das selbst allzu wörtlich genommen.

Morrison schrieb im Knast seinen zweiten Roman, bei dem es um eine schwule Liebesaffaire in Long Kesh geht. Als er im Spätsommer zur Buchvorstellung Freigang erhielt und davon sprach, daß eine Strategie ohne Waffen durchaus ein Risiko wert sei, horchten viele auf: Wenn jemand mit solch direktem Draht sowohl zur Sinn- Féin-Führung als auch zu den IRA-Gefangenen einen Waffenstillstand andeutete, war das ein wichtiges Zeichen.

Kurz darauf legte die IRA die Waffen nieder. Das ist heute genau fünf Monate her. Die seitherigen Verhandlungen kommen jedoch derart langsam voran, daß die IRA-Gefangenen davon noch kaum Fortschritte zu spüren bekommen haben – obwohl ihre Meinung für den Gewaltverzicht ihrer Organisation maßgeblich war. „Das mindeste ist doch“, sagt Mary, die im Sinn-Féin-Büro auf den Bus nach Long Kesh wartet, „daß die Gefangenen bei guter Führung wieder fünfzig Prozent Strafnachlaß erhalten, wie es bis 1988 der Fall war.“ Der Strafnachlaß wurde damals auf ein Drittel gekürzt, nachdem bei einem IRA- Bombenanschlag acht Soldaten getötet worden waren.

Zwar hat die Dubliner Regierung vor Weihnachten neun IRA- Leute frühzeitig entlassen und gestern sechs weitere Freilassungen angekündigt, doch die britische Regierung hat die Gefangenenfrage inzwischen mit der Übergabe der IRA-Waffen verknüpft, wenn man einem Bericht in der Sunday Tribune glauben kann. Zwar wurden über Weihnachten insgesamt 350 Gefangene – darunter etwa ein Viertel von IRA und loyalistischen Organisationen – für sieben Tage auf freien Fuß gesetzt, doch ein Jahr zuvor waren es fast hundert mehr. Dieses Verhalten des Nordirlandministeriums wurde sowohl von Sinn Féin als auch von den loyalistischen Parteien als „kleinkariert“ bezeichnet.

Die Haftbedingungen in englischen Gefängnissen haben sich sogar verschlechtert, seit im September fünf IRA-Männer aus dem Whitemoor-Knast abgehauen sind. Zwar saßen sie innerhalb von anderthalb Stunden wieder hinter Gittern, doch der Untersuchungsbericht von John Woodcock läßt kein gutes Haar an der Gefängnisverwaltung. Da ist von „verwöhnten Gefangenen“ und „eingeschüchterten Wärtern“ die Rede, und am Ende zieht Woodcock das Resümee: „Alles ist schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte“ – Wasser auf die Mühlen jener britischen Politiker, die dem Friedensprozeß sowieso skeptisch gegenüberstehen.

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