„Ich bin doch auch noch da“

■ Liebesentzug, Pflichten und Verantwortung – In einem katholischen Bildungshaus in Lilienthal lernen die Geschwister behinderter Kindern das Neinsagen

„Mich bedrückt, daß meine Eltern Torsten lieber haben“, liest Gesche vor. „Der darf alles, sogar meine Katzen hauen. Dann kommt der in mein Zimmer, wirft die Lego-steine rum, und wenn ich ihn rausschicke, weint er und ich bin die Dumme.“ Auf kleine Zettel haben die Kinder geschrieben, was sie quält. Die Zettel wurden in Pakete gepackt und werden jetzt vor versammelter Runde rausgeholt. Wenn eins der Päckchen nicht geöffnet werden soll, bleibt es auch zu, so ist es abgemacht. Diese Sorgen bleiben geheim. Die anderen werden reihum gereicht: Die Eltern haben Fabian beim Rodeln geholfen, mir nicht, sie haben nur gesagt, ,Bei dir ist es was anderes'. Elaine kriegt ihre Wutanfälle, zerreißt meine Bilder, und ich muß das verstehen.

Elaine ist 10 Jahre alt, hat immer wieder epileptische Anfälle. Elaine ist die Schwester von Anne (12). Wie Anne sind alle hier Geschwister von behinderten Kindern. Die Geschwisterkinder sind zu einer Tagung ins Niels-Stensen-Haus nach Lilienthal gekommen, wo die Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide für sie seit 13 Jahren Tagungen veranstaltet. Drei bis fünf Mal im Jahr lädt sie zusammen mit einer Therapeutin und jeweils zehn pädagogischen Kräften (meist StudentInnen) rund 30 Geschwisterkinder im Alter zwischen sechs und sechzehn in das katholische Bildungshaus. Bildungsarbeit für die Geschister behinderter Kinder, die gibt es sonst nirgendwo in Deutschland. Die Probleme der Geschwisterkinder sind überhaupt erst in den letzten Jahren in der Behindertenpädagogik aufgegriffen worden (s.a. Kasten).

Das Thema der Tagung ist diesmal „Ich bin nicht du – du bist nicht ich“, wie immer mitten aus dem Alltag der Kinder gegriffen. „Stimmt“, meint Patricia, 13. „Ich sag das oft zu meiner Mutter, wenn sie mich schimpft. Ich bin nicht mein Bruder, der liegt ja nur im Bett und kann nichts anstellen.“ David ist taubstumm.

Die Geschwisterkinder schreiben auf, was sie beschäftigt und quält, spielen es in Rollenspielen nach. Sie sollen lernen, zu verstehen, und erleben, daß sie auch wichtig sind, daß es wichtig ist, was sie selbst tun, denken und empfinden. Ganz demokratisch wird über alles abgestimmt, sogar über die Zubettgehzeit. Die Kinder erfahren, daß ihre Stimme zählt. Denn zu Hause in der Familie kommen sie oft zu kurz, erhalten wenig Beachtung. Oft müssen sie viel im Haushalt mithelfen und sind gleichzeitig allein mit sich und ihren Sorgen, wenn etwa die behinderte Schwester wieder ins Krankenhaus muß, auf eine Station, „wo man erst ab vierzehn hindarf“.

Im Niels-Stensen-Haus wird über das geredet, was sonst geschluckt wird. Johannes war schon „zehn bis fünfzehn Mal“ hier. Johannes' Schwester Dorothee ist acht und hat das Down-Syndrom, ist „mongoloid“. Früher dachte er, er sei der einzige mit einer behinderten Schwester, erzählt der Junge mit dem hellen Haarschopf. „Jetzt weiß ich, hier werd ich verstanden, hier kann man heulen... Da lacht auch keiner.“

Hier wird auch gelernt, mal „nein“ zu sagen. Wenn zum Beispiel der Pflichtenberg für Pia so riesig groß wird, weil sie mit Mama und Rieke nun wieder alleine lebt. Sie muß Essen kochen, staubsaugen, einkaufen gehen und hat gar keine Zeit mehr für ihre Hobbys. Marlies Winkelheide und ihr Team ermuntern die Kinder, das den Eltern zu sagen, sich zu trauen, eigene Forderungen zu stellen. Denn Sensibilität und Rücksichtnahme muß man den meisten Geschwisterkindern nicht mehr anerziehen. Sie versuchen eher noch, die Verzweiflung der Eltern mit aufzufangen. Beginnen sie dann damit, sich ihre eigenen Freiräume zu erkämpfen, kann das zu Hause schon mal zum Problem werden.

Eine schwierige Gratwanderung ist dies, ist sich Charlotte Knees bewußt, die als Therapeutin die Tagungen begleitet. „Die Kinder gehen nach einer wohltuenden Zeit zurück in den Alltag. Wir sagen denen, daß sie mit der Situation zu Hause leben müssen.“ Wenn jedoch offensichtlich sei, daß die Kinder die Behinderung der Schwester oder des Bruders überhaupt nicht ansprechen dürfen, nicht benennen dürfen, daß etwas anders ist – dann versucht das Team vom Niels-Stensen-Haus, mit den Eltern zu sprechen. „Da würde ja nie ein Jugendamt reagieren“, sagt Charlotte Knees.

Doch Wut und Ängste erzeugen auch die Leute auf der Straße oder die MitschülerInnen. Man muß sich wehren können, und da greifen die älteren Geschwisterkinder den jüngeren oft unter die Arme, weil sie das eine oder andere Problem schon für sich gelöst haben. „In der Schule, da will ja keiner was hören“, erzählt Stefan. „Die bringen nur so blöde Schimpfwörter wie ,Spasti' oder ,Du bist ja behindert' oder ,Dein asozialer Bruder da im Rollstuhl' und wissen gar nicht, was das ist. Ich sag denen, daß ihnen das auch passieren kann. Heute.“ Anne hat schon erlebt, daß nur die guten Freunde bleiben, wenn man sich endlich mal getraut hat, zu sagen, daß Elaines epileptische Anfälle nie weggehen werden. „Meine Schwester Dorothee sieht jünger aus, als sie ist. Ich laß die Leute das glauben, sonst fragen die gleich so blöd ,Was hat sie denn?'“, meint Johannes trotzig.

Nachdem sie alle ihre Sorgenpakete geleert haben, bekommen die Kinder die Aufgabe, einen Brief an eine außenstehende Person zu schreiben. Die Kinder sollen dieser erklären, warum sie wütend sind, warum sie das Thema Gerechtigkeit nicht mehr losläßt und daß sie so viel Verantwortung belastet. „Wie ist es in zwanzig Jahren, wenn meine Eltern nicht mehr alles für meine Schwester machen können?“ stand auf einem der Zettel im Paket. – „Matthias muß mit seinen fünf Jahren so viel aushalten, jetzt kommt wieder eine Hüftoperation.“ – „Was wird Hanna machen, wenn sie groß ist (Führerschein, Haus bauen)?“ – „Es gibt ja keine Hoffnung“, hatte ein Junge spontan geantwortet.

Silvia Plahl