Das ist zum Teil Schwerkriminalität

■ Polizeipräsident Saberschinsky: 15.000 Sprayer verstoßen gegen das Recht / Nur weil Jugendliche stigmatisiert werden könnten, dürfe Berlin nicht Millionenschäden hinnehmen

taz: Sie reden von „sehr strukturierter Gewalt“, der CDU-Abgeordnete Hapel von „einer Szene, die die gesamte Stadt mit Gewalt überzieht“, und Innensenator Heckelmann kündigt an, daß die Durchsuchung von 85 Wohnungen und Geschäften vor einigen Wochen nicht die einzige Großrazzia bleiben wird. Es geht hier nicht um die Drogenmafia, sondern um jugendliche Sprayer. Geraten die Maßstäbe durcheinander?

Hagen Saberschinsky: Durch das Aneinanderreihen von Zitaten wird schnell ein falsches Bild erzeugt. Es ist so, daß wir in Berlin eine sehr stark strukturierte Sprayerszene haben, die sich im illegalen Bereich bewegt.

Was heißt illegal?

Mit illegal meine ich, daß gegen Recht verstoßen wird. Nicht gemeint sind Sprayer, die sich zum Beispiel als Künstler an zugelassenen Stellen, etwa im Rahmen der Jugendarbeit, betätigen.

Es ist von 12.000 bis 15.000 Jugendlichen und Heranwachsenden die Rede, die ihre Zeichen, sogenannte „tags“, in S-Bahn-Wagen oder metergroße Graffiti an Häuserwänden hinterlassen. Das sollen wirklich alles Kriminelle sein?

Es ist in etwa der Kreis, um den sich die Polizei qua Gesetz kümmern muß, weil diese Leute gegebenenfalls gegen Rechtsvorschriften verstoßen. Wir unterscheiden aber sehr genau zwischen 70 bis 80 Gruppen, die jeweils aus drei bis zehn Mitgliedern bestehen und permanent sprayen. Daneben haben wir 2.000 bis 3.000 Menschen, die in Gruppen oder einzeln gelegentlich Graffiti großflächig fertigen. 10.000 bis 12.000 Menschen bringen als Einzeltäter oder in Gruppen ihre tags gelegentlich an.

Gibt es für die Polizei nicht wichtigere Aufgaben?

Das ist ein Denkfehler. Hinter dem Sprayen versteckt sich zum Teil nämlich sehr ernstzunehmende Schwerkriminalität. Um die geht es uns schwerpunktmäßig. Wir versuchen pieces und tags bestimmten Einzeltätern oder Gruppen zuzuordnen. Bei den weiteren Ermittlungen stoßen wir zum Teil auf knallharte Kriminalität wie Erpressungen, Raubüberfälle und Körperverletzung mit Todesfolge. Und natürlich liegt fast immer die Sachbeschädigung vor, die sich für das vergangene Jahr nach unseren Schätzungen an öffentlichen und privaten Gebäuden auf jeweils hundert Millionen Mark belief. Die Schäden im Zusammenhang mit Sprayen an Berliner Waggons, Gebäuden und Bahnhöfen betrugen nach Angaben der Bahn-AG rund sieben Millionen Mark.

Wie sieht die Schwerkriminalität aus?

Es gibt gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Gruppierungen mit Körperverletzungen bis hin zur Todesfolge. Wir haben Fälle, bei denen sich Jugendliche gegenseitig Messer in den Leib gerammt, mit Schußwaffen verletzt und sich gegenseitig mit Bodenplatten traktiert haben. Die Opfer tragen zum Teil erhebliche Dauerschäden davon, es gibt auch Todesfälle. Dann gibt es den Bereich der Beschaffungskriminalität. Sprayen kostet viel Geld. Es gibt Gruppen, die pro Woche 2.000 bis 3.000 Mark benötigen, nur um die Farbe zu bezahlen.

Wieviel Sprayer gehören dem schwerkriminellen Umfeld an?

Unsere Arbeitsgruppe Graffiti in Berlin (GiB) hat seit der Gründung im vergangenen August etwa 1.100 Vorgänge erfaßt. Etwa die Hälfte der Beschuldigten ist gewalttätig.

Die Beschuldigten sind in der Regel zwischen 14 und 24 Jahre alt. In der Pubertät spielt die Idenditätsfindung eine große Rolle. Dazu zählt auch der Protest gegen gesellschaftliche Normen. Relativiert das nicht den Vorwurf der Schwerkriminalität?

Viele Verhaltensweisen von Jugendlichen sind episodenhaft. Das wird auch bei Gerichtsverhandlungen zum Beispiel mit dem Jugendstrafrecht berücksichtigt. Die Aufgabe der Polizei ist es, nüchtern festzustellen, was ist wann wie passiert. Wenn in der Graffiti-Szene wie selbstverständlich gestohlen und Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung akzeptiert wird, ist die Gefahr allerdings groß, daß regelrechte „Karrieren“ entstehen. Die Erfahrung zeigt, daß schnell folgende Sanktionen eine hohe pädagogische Wirkung haben.

Besteht nicht die Gefahr, daß Jugendliche gerade durch die Stigmatisierung als Kriminelle an den Rand gedrängt werden?

Weil die Gefahr besteht, daß ein Jugendlicher stigmatisiert wird, soll eine Stadt Sachschäden in der Summe von Hunderten Millionen, Raub, Erpressung und Körperverletzung hinnehmen?

Müssen Sie von Kriminellen sprechen, weil jemand mit einem Edding-Stift die Polster einer U-Bahn versaut?

Wir sprechen ja nicht von Kriminellen, sondern von Personen, die Straftaten begehen. Wenn ein Gericht nach einer Verurteilung zu dem Ergebnis kommt, hier handelt es sich um einen Kriminellen, dann ist das kein Stempel, den die Polizei aufgedrückt hat.

Genießen Drogenmafia und Wirtschaftskriminalität eine höhere Priorität als die Sprayerszene?

Das können Sie doch nicht miteinander vergleichen. Allein durch den illegalen Drogenhandel und die damit verbundene Beschaffungskriminalität entstehen jährlich Schäden in Milliardenhöhe. Gegen Drogen- und Wirtschaftskriminelle ermitteln wir ständig. Gezielt mit der Sprayerszene beschäftigt sich dagegen eine zeitweise eingerichtete Arbeitsgruppe von 20 Polizisten und 8 Beamten des Bundesgrenzschutzes.

Wann hat es in Berlin das letzte Mal eine Großrazzia gegen die Drogenmafia oder Wirtschaftskriminelle gegeben?

Da finden ständig viele Durchsuchungen statt. Aber auch das ist doch so nicht vergleichbar. Sie dürfen nicht von der Quantität auf die Qualität schließen. Wenn in zwei Fällen die Wohn-, Büro und Geschäftsräume von Wirtschaftskriminellen durchsucht werden, dann geht es schnell um einen Schaden von mehreren hundert Millionen Mark, den zwei Beschuldigte zu verantworten haben. Bei den 85 Durchsuchungen in der Sprayerszene geht es um einen Bruchteil dieser Summe. Interview: Dirk Wildt