Lauter Schmetterlingseffekte

All die Jungen und Mädchen: André Téchinés „Wilde Herzen“ verbindet Algerienkrise und Pickelkrise aufs allerliebste. Ein jeder ist eine Insel: Maité, Henri, François und Serge – Sommer ist es noch dazu, Sommer 1962  ■ Von Mariam Niroumand

Daheim pubertieren die Leut': Während im deutschen Film „Provinz“ in der Regel bedeutet, daß muffige Knödel gegessen und Andersdenkende mit der Heugabel zernichtet werden müssen, kann sie in Frankreich eben der Ort sein, an dem der strenge Blick des Vater-Zentrums nicht weilt. Paris ist weit, wenn die Kornblumen explodieren, Verstecke am Fluß besucht werden und Ameln sich in die Lüfte schwingen. Gleich die erste Totale von „Wilde Herzen“ (bißchen doofer Titel für André Téchinés „Les Roseaux sauvages“) macht ihrem Namen alle Ehre: ein Hochzeitsbankett ohne Rand und Band, in dem Gräser, Bäume und Tänzer stets seitlich aus dem Bild bersten. Téchiné, der sonst oft in Cinemascope dreht, hat sich hier für 16mm entschieden: leichter zu handhaben, leichter als Bild, weniger romanhaft nachher im Kino.

Antizentralismus und sexuelles Erwachen sind bei Téchiné eins: Vor dem „Hintergrund“ der Algerienkrise ereignet sich die Pickelkrise von François, Maité, Serge und Henri, die im Sommer 1962 allesamt kurz vor der Reifeprüfung stehen. Während die Kolonie sich selbständig macht, bricht neben den Adoleszenten die Kleinfamilie weg; der Terrorismus der OAS, die eine Algérie française wollte, paart sich mit den unberechenbaren Interventionen der Erwachsenen.

Die vier Burschen und das Mädchen wirken ein bißchen wie Sprößlinge von Jules und Jim, nur noch irritierter: ihr Beziehungsgeflecht ist um die Option von Homosexualität und wildem Frühfeminismus erweitert. Der Gleichklang von „Souvenirs d'en France“, dem Titel von Téchinés zweitem Spielfilm, mit „Souvenirs d'enfance“ war durchaus beabsichtigt – wie man ja überhaupt das Gefühl hat, daß der französische Film von Truffaut bis Malle, von „Le Jeune Werther“ bis „Fils du requin“ die Heimat am wahrhaftigsten durch Kinderaugen porträtiert sieht. Daß Téchiné unter anderem mit einem Brecht-Nachlaß operiert, merkt man höchstens daran, daß er alle Protagonisten sozial ausweist: Serge ist ein kräftiger Bauernbursch von erschreckender Schönheit, (wer hier nicht schwul wird, ist hetero); sein Bruder Pierre hat gerade ein ihm unbekanntes Dorfmädchen geheiratet, um wenigstens einmal Urlaub von der Front in Algerien zu haben. Maité ist die Tochter der sozialistischen Dorfschullehrerin, die sich weigert, Pierre bei der Desertion zu helfen. Maités Freund François – über dem ganz offensichtlich die zärtliche Nachsicht des Regisseurs weilt, weil der in ihm sein Alter ego sieht – ist ein bißchen herzschwach, Faulkner-inspiriert und zum eigenen Schrecken schwul. Wo bei Truffaut Antoine Doinel vor sein Spiegelbild tritt und immer wieder den eigenen Namen wie zur Selbstvergewisserung vor sich hinsagt, steht François nachts im Waschraum und murmelt: „Ich bin eine Tunte, ich bin eine Tunte, ich bin eine Tunte.“ Henri, der später in die Klasse kommt, ist genau der Algerienfranzose, der pied noir, vor dem die Kommunistin Maité und der Gaullistensohn Serge immer gewarnt worden sind. Tag und Nacht hängt Henri, der die Welt gesehen hat, am Radio – das übrigens, wie es sich für einen theaterinspirierten Filmemacher ziemt, der einzige Kontakt zur Außenwelt, der Machtwelt ist – und hört Neues aus Algerien: neue Bombenattentate der OAS, der Exodus der pieds noirs in Richtung Marseille, wo sie heute Le Pens Fußvolk sind.

Ansonsten ist von Brecht nicht viel zu merken; die einzelnen Bilder sind keine Lehrtafeln, sondern Ausschnitte aus etwas, das nie komplettiert wird.

Serge gibt François die Matheaufgaben für den nächsten Tag, François schreibt ihm einen Aufsatz über Rimbaud, und nachts kraucht der eine zum anderen ins Bett. „Wie oft pro Nacht holst du dir einen runter?“ – „Och, so ein bis zwei Mal.“ – „Tun wir's jetzt.“ Was für Serge, den Bauern, dann eine einfache Handreichung ist, Dienst am Kumpel, fühlt sich für François wie ein Rettungsanker an: „Können wir das, was wir neulich gemacht haben, noch mal machen? Ich meine: kann ich hoffen?“ Natürlich sagt Serge, der mit einer Nachbarstochter den Hof der Eltern weiterführen soll: „Vergiß es einfach, François.“ Nicht auszudenken, wie diese Szene in einer sogenannten „Komödie“ von Doris Dörrie ausgesehen hätte: einer von beiden wäre doch garantiert zur halbtragischen Witzfigur geworden.

Der Film entstand im Laufe eines von der französischen Produzentin Chantal Poupand angeleierten Projekts einer Fernsehserie „Tous les garçons et les filles de leurs ages“ – ursprünglich ein Titel von Françoise Hardy – zu der sechs junge Regisseure einen Beitrag liefern sollten, der eine bestimmte Dekade mit autobiographischem Bezug beschreibt. Es wird hohe Zeit, daß diese Serie hier ausgestrahlt wird: Chantal Akermans Porträt eines Mädchens aus den sechziger Jahren ist ebenso dabei wie Olivier Assayas „L'eau froide“, ein Porträt zweier stadtflüchtiger Teenager, das bislang nur in Hof zu sehen war. Poupand hatte lediglich auf der Jugendlichkeit der Protagonisten und einer Party für sie bestanden. Daß dennoch nichts fernsehhaftes an „Wilde Herzen“ ist, liegt zum einen daran, daß Téchiné noch eine extra Filmfassung drehte, aber auch daran, daß der Franzos eben hat, was man hier leicht abschätzig „Qualitätsfernsehen“ nennt.

Durch die Arbeit mit zwei Kameras, wie er das schon in dem wirklich hinreißenden „Meine liebste Jahreszeit“ durchexerziert hat, multipliziert Téchiné die Persönlichkeiten: Daß man Catherine Deneuve selten so privat angetroffen hat wie in „Ma saison préférée“, liegt an der fehlenden Zentralperspektive, die alle Schauspieler zwingt, das Bild zu füllen, allseitig präsent zu sein. Ein Persönlichkeits-Auflösungseffekt stellt sich ein, der zum Melodram ebenso gehört wie zum kubistischen Charakterbild der Post-Nouvelle-vague.

Da fügt es sich, daß Maité und François etwa in der Mitte des Films aus Bergmanns „Wie in einem Spiegel“ kommen. Bergmann erzählt darin von einer Insel, umflutet bis zum Horizont, auf der eine junge Frau mit Mann, Bruder und Vater in dermaßen zweideutigen Verhältnissen lebt, daß sie irgendwann Stimmen hört. Sie kündigen ihr die Ankunft eines Königs an. Statt des Königs kommt aber nur eine Spinne durch die Tür. Nachdem sie in völliger Verwirrung mehr oder weniger versehentlich mit ihrem Bruder geschlafen hat, wird sie abgeholt. Als sie weg ist, versöhnen sich Vater und Sohn: als hätte sich ein einziger Mann nur zeitweilig in drei zerteilt. Inzest, Entgrenzung, oh je oh je. Während Maité anschließend vorschlägt, sich das Plakat von „Wie in einem Spiegel“ zu besorgen, findet François das Ende, die Versöhnung mit dem Vater, unmöglich: „Es gibt mehr Väter als genug. Die grünen Wiesengründe der Väter, wo für jeden Platz ist. Das haben die Priester in der Klosterschule mir auch immer erzählt. Das soll es angeblich sein, was man nach dem Tod findet. Naja, wenn man gläubig ist. Ich jedenfalls möchte mich nicht immer wieder bei Vätern finden. Immer die Väter. Eine schreckliche Aussicht!“

Aber, wie gesagt: alles fließt hier von leichter Hand. Es hätte so gehen können, aber auch anders. Alles Schmetterlingseffekte. Es ist und bleibt Sommer. Blühen, blühen, blühen. Wer sich jetzt keinen gelben Badeanzug kauft, kauft sich keinen mehr.

„Wilde Herzen“. Regie und Buch: André Téchiné. Kamera: Jeanne Lapoirie. Mit: Gaäl Morel, Elodie Bouchez, Frédéric Gorny, Stéphane Rideau. Frankreich 1994, 110 Min.