■ O.J. Simpson, ein weiterer Fall für das scheinbar farbenblinde Amerika, „Probleme“ zu erkennen
: Schwarze Sündenböcke

Wenn jüngste Sensationsprozesse einen Trend anzeigen, dann scheint sich das nationale Bewußtsein nur dann zu elektrisieren – vor allem bei Übergriffen und Verbrechen gegenüber Frauen –, wenn schwarze Individuen oder Gruppen beteiligt sind. Auf der ersten Seite der New York Times verwandte man den Begriff „elektrisieren“, als man über die Auswirkung des Falles O. J. Simpson auf das öffentliche Bewußtsein häuslicher Gewalt diskutierte.

Die Klage Anita Hills gegen den sich damals als Obersten Richter der USA bewerbenden Clarence Thomas hatte eine landesweite Debatte über sexuelle Belästigung zur Folge. Die amerikanische Musikliteratur enthält Tausende sexistischer Texte, aber erst die Rapper lösten eine Kontroverse über diese Texte aus, die schließlich sogar den Kongreß beschäftigte. Zwei schwarze Studenten, die sich beleidigt fühlten, weil ein weißer Student sie als Wasserbüffel beschimpft hatte, lösten eine große Diskussion über politische Korrektheit aus.

Ich will nicht sagen, häusliche Gewalt sei ein unwichtiges Thema, aber die Medien machen sich und ihrem Publikum etwas vor, wenn sie den Eindruck erwecken, häusliche Gewalt sei bloß ein Problem der Schwarzen – was auch der Staatsanwalt in Los Angeles nahelegte, als er sagte, Mißhandlung durch den Ehegatten erfolge in „städtischen“ Gegenden. Obwohl alles darauf hinweist, daß es ein ebenso gravierendes Problem in vorstädtischen und ländlichen Gebieten ist.

Vor kurzem haben prominente schwarze Feministinnen wie Bell Hooks und Joyce Joyce die Vermutung geäußert, weiße Feministinnen konzentrierten ihren Zorn mit Vorliebe auf schwarze Männer. Während Anita Hill zu einer Ikone der Feministinnen geworden ist, konnte ich bisher noch keinerlei Autoaufkleber entdecken mit der Aufschrift „Ich glaube Paula“. Marineleutnant Paula Coughlin hatte nach Angriffen auf Frauen eine Klage gegen weiße Männer eingereicht. Leutnant Coughlin gab den Dienst in der Marine auf, nachdem sie wegen ihres Engagements Repressalien hatte erdulden müssen.

Kommentare der feministischen Anwältin Gloria Allred hatten Michael Jackson, Mike Tyson und Clarence Thomas im Fernsehen verurteilt. Derzeit berät Allred im O.J.-Simpson-Fall die Familie des Opfers Nicole Brown. Sie ist vielleicht auch dafür verantwortlich, daß der Fall zu einem so eklatanten Referendum über feministische Theorie geworden ist, daß kein Mann im Gespräch mit seiner Frau mehr die Stimme erheben oder ihr Geschenke machen oder sich mit ihr über das Familienbudget streiten darf, ohne Gefahr zu laufen, von Allred und der Schwesternpolizei vor Gericht gezerrt zu werden.

Allred gehört zu den vielen weißen Feministinnen, die O. J. Simpson als schlechten Charakter darstellen und nahelegen, er solle aufgrund seiner schwierigen Ehe verurteilt werden, ob er nun die Morde begangen hat oder nicht. Nur wenige schwarze Frauen wurden zu dieser Parade von Pop-Psychologen und Quacksalbern aus anderen „Wissenschaften“ eingeladen. Sie alle haben O. J. Simpson wegen Mordes schon vorverurteilt.

Ob Simpson schuldig ist oder nicht – sein Fall hat ein Thema zur Sprache gebracht, das weitere Diskussion verdiente, das aber wahrscheinlich keine Publizität erreichen wird, weil damit ein gefährlicher Mythos in Frage gestellt würde, mit dem viele Medienleute und Politiker gerne weiter leben: der Mythos nämlich, daß sämtliche sozialen Probleme Amerikas vom Verhalten der Schwarzen herrühren.

Weil sich einige der mächtigsten Meinungsmacher in diesem Lande diese Theorie zu eigen gemacht haben, werden wir also warten müssen, bis eine bekannte Schwarze ihr Kind ermordet, damit endlich eine Diskussion über häusliche Gewalt durch Frauen in Gang kommt. Wir werden warten müssen, bis ein schwarzer Teenager-Star Selbstmord begeht, bevor wir uns vom Thema jugendlicher Selbstmorde „elektrisieren“ lassen.

Obwohl die weißen Medienexperten und einige ihrer schwarzen Gefolgsleute tausend Eide schwören, daß die Fixierung auf jene Fälle von Richter Thomas, Mike Tyson und O. J. Simpson nichts mit Rasse zu tun hat – alle drei sind nur zufällig schwarz –, ist das Muster mit Sicherheit rassistisch und nur eine weitere Rechnung, die Schwarze in einer Gesellschaft zu zahlen haben, die sich selbst als farbenblind bezeichnet. Ishmael Reed

US-amerikanischer Autor; aus dem Amerikanischen von Meino Büning, entnommen dem „Washington Post Service“ vom 30.01.