Stirbt die Partei noch vor Mitterrand?

Frankreichs Sozialistische Partei geht schwach in die Präsidentschaftswahlen – egal mit welchem Kandidaten. Den bestimmt die Basis heute in einer Urwahl nach SPD-Vorbild  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Nach Jacques Delors die Sintflut: Seit der einstige Chef der Europäischen Kommission definitiv ablehnte, Präsidentschaftskandidat zu werden, ist die französische Sozialistische Partei in heilloses Durcheinander geraten. Kein einziger „natürlicher Kandidat“ drängte sich für die Vakanz auf, doch zahlreiche Politiker brachten sich selbst ins Spiel. Zwei von ihnen blieben als „Kandidaten für die Kandidatur“ übrig: Parteichef Henri Emmanuelli und Ex- Parteichef Lionel Jospin. Heute abend sollen die 103.000 Mitglieder in geheimen Abstimmungen in ihren Abteilungen entscheiden, wen sie für die Wahlen im April ins Rennen schicken.

Emmanuelli, einst Haushaltsminister und später Präsident der Nationalversammlung, war erst im vergangenen Jahr mit großer Mehrheit zum Parteichef gewählt worden. Er hat eine starke lokale Basis in Südwestfrankreich und brachte eher linke Positionen an die Parteispitze, eine eigene Fraktion hat er allerdings nicht. Neben seinem geringen politischen Profil außerhalb der Partei gilt ein Verfahren wegen illegaler Parteienfinanzierung als ein wichtiges Handicap des einstigen sozialistischen Schatzmeisters. Im März – in der Schlußphase des Präsidentschaftswahlkampfes – muß Emmanuelli sich wegen Millionenüberweisungen der Bauindustrie an die SozialistInnen vor einem Gericht rechtfertigen.

Jospin, einstiger Erziehungsminister, ist außerhalb der Partei entschieden bekannter. Er hat Erfahrung in nationalen Wahlkämpfen, keine bekannte Verwicklung in Korruptionsaffären, gute Kontakte in andere linke Organisationen und gilt als moralisch rigide, weshalb er von vielen SozialistInnen für den „präsidentableren“ Kandidaten gehalten wird.

Eine „Vereinigung der Linken“ streben beide Kandidaten an. Doch ihre Chancen, außerhalb der Sozialistischen Partei Unterstützung zu finden, sind nicht besonders groß. Sowohl die ihrerseits völlig zerstrittenen Umwelt-Gruppen als auch die AnhängerInnen des Linkspopulisten Bernard Tapie, dem gerichtlicherseits jede eigene Kandidatur untersagt wurde, hätten einen anderen Sozialisten bevorzugt. Ihr Favorit war der einstige Kulturminister Jack Lang, der seine Kandidatur für die Kandidatur am vergangenen Wochenende zurückzog. Auch in den Meinungsumfragen war Lang der bestplazierte Kandidat der SozialistInnen. Dieselben Meinungsumfragen – und davon gibt es mittlerweile Dutzende – ermittelten auch, daß ein sozialistischer Kandidat im ersten Wahlgang maximal 20 Prozent der Stimmen zu erwarten hat.

Monatelang hatte die Sozialistische Partei als Zaungast genüßlich verfolgt, wie sich im rechten Lager der Konkurrenzkampf zweier Präsidentschaftskandidaten aus derselben Partei anbahnte – Regierungschef Edouard Balladur und der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac, beide RPR. Deren öffentlich ausgetragenen Duelle kamen den SozialistInnen, die damals noch – einmütig – auf ein „Jawort“ ihres Wunschkandidaten Delors hofften, gelegen.

Inzwischen hat sich das Dilemma der Kandidatenflut in die Reihen der SozialistInnen fortgesetzt. Die Folgen für die Partei sind verheerend: Statt sich zuerst der internen Diskussion zu stellen, strebten die selbsternannten Kandidaten gleich in die Öffentlichkeit. Als das Scheitern der traditionellen internen Kandidatenkür feststand, trat vor einigen Tagen die Spitzenpolitikerin Ségolène Royal von ihrem Posten im Nationalrat zurück. Sie warnte die Basis vor der Zerreißprobe der Partei und forderte sie auf, sich bei der heutigen Urnenwahl zu enthalten.

An der Basis ist der Unmut nicht zu überhören: Die meisten SozialistInnen hätten es vorgezogen, nicht vor die Qual der Wahl zwischen den beiden Männern gestellt zu werden. Ihre Leitfrage beim heutigen Urnengang lautet: Welcher ist weniger schlecht? Dahinter steckt die – realistische – Vermutung, daß der sozialistische Kandidat ohnehin keine Aussicht hat, in den Elysée-Palast einzuziehen. Als höchstes der Gefühle gilt es der sozialistischen Basis, daß ihr Kandidat im ersten Wahlgang zweitstärkster Mann wird, um dann in der Stichwahl „anständig“ gegen Balladur zu verlieren.

Zahlreiche Korruptionsaffären und Gerichtsverfahren und die Wahlniederlagen der letzten Jahre – zuletzt die 14,5 Prozent bei den Europawahlen im vergangenen Juni – haben die Moral der langjährigen Regierungspartei nachhaltig geschwächt. Die Auseinandersetzung der beiden „Kandidaten für die Kandidatur“ hat die Stimmung weiter verschlechtert. Bis zuletzt beschimpften sich die beiden Sozialisten gegenseitig als „größeres Risiko“. Emmanuelli drohte zusätzlich an, er werde sein Amt als Parteichef niederlegen, sollte er nicht gewählt werden.

Von der Basis kam bereits die Frage: Stirbt die Sozialistische Partei noch vor François Mitterrand? Der 78jährige schwer krebskranke Sozialist, um dessen Nachfolge als Staatspräsident es geht, versuchte in der vergangenen Woche die Wogen zu glätten. Bei einem Empfang zum 14. Jahrestag seiner eigenen Präsidentschaftskandidatur mochte er sich zwar nicht für einen der beiden Konkurrenten entscheiden, bezeichnete es jedoch als „völlig normal“, daß es zwei Kandidaten gebe. „Der Verlierer wird der erste Unterstützer des Gewinners sein“, äußerte sich Mitterrand betont zuversichtlich.

In Ermangelung eines Kandidaten hat die Sozialistische Partei immerhin schon ein Programm für die Wahlen. Am Mittwoch verabschiedete ihr Nationales Büro eine Plattform mit 110 Vorschlägen, mit denen der Wahlkampf bestritten werden soll. Neben zahlreichen anderen, aus der Vergangenheit bekannten Postulaten, steht darin auch die Forderung nach der Einführung der 35-Stundenwoche binnen fünf Jahren.

Wenn es der Basis schon schwerfällt, die Konterfeis eines Kandidaten zu kleistern, für den sich niemand wirklich begeistern kann, dann soll sie zumindest eine Forderung haben, mit der sich zu Zeiten von Massenarbeitslosigkeit Sympathie gewinnen läßt.