Sanssouci
: Nachschlag

■ Treptower Familienabend mit Wolfgang Hilbig

Beinahe wie eine Märchenstunde im Familienkreis wirkte die Lesung von Wolfgang Hilbig am Donnerstag abend im „Studio Bildende Kunst“ in Treptow. Man muß das Staunen schon bei anderer Gelegenheit hinter sich gelassen haben, daß derjenige, der dort liest, auch wirklich der sein soll, der so viele kluge und wichtige Sachen geschrieben hat. Ansonsten drohen das sächsische Idiom, von dem der Autor hemmungslos Gebrauch macht, der leicht näselnde Ton und die monotone Satzmeldodie vom Eigentlichen, dem gelesenen Text, abzulenken.

Hilbig las zunächst aus seinem Romana „Ich“, in dem es nur so von Anspielungen auf die Prenzlauer-Berg-Szene wimmelt. Die scheinbare Authentizität der Milieubeschreibung und Hilbigs Projektion der eigenen Biographie in die seines Helden könnten leicht dazu verführen, den Roman als eine Stasi-Akte zu lesen. Das hat zu Mißverständnissen geführt. Kurz nach Erscheinen des Romans ist in der Reihe „Text und Kritik“ ein Band über Hilbig erschienen. Darin warnt ein Schriftstellerkollege Hilbigs, Jan Faktor, vor dem scheinbaren Dokumentarcharakter des Buchs und zählt auf, was alles im Umgang des Führungsoffiziers mit dem IM nicht stimmen kann.

Hilbig selbst entzieht sich jedoch dem Anspruch, korrekt mit den Fakten umzugehen. Und tatsächlich bilden nicht die Fakten das Gerüst in den Texten von Hilbig. Assoziationen treiben den Text voran, sie lösen sich ab, werden ausgemalt, wiederaufgenommen oder aufgegeben. Das vermeintlich Normale wird als finster, scheinbar Müheloses als Qual beschrieben, und triftige Gründe, sich zu fürchten, gibt es allenthalben. Schon eine Woche in einer fremden Wohnung voller russischer Bücher verbringen zu müssen löst eine Kette wahnhafter Assoziationen aus. Während die Nachbarn ihre Kachelöfen heizen und der Kohlenmonoxid-Qualm durch die Wände in das Schlafzimmer des Helden kriecht, wird vom schlimmsten aller Fälle phantasiert: Der Geruch, „der von den Bücherwänden abfloß“, ist „der Geruch des Todes“. Auf Nachfrage läßt sich Hilbig darauf ein, noch drei eigene Gedichte zu lesen. Leider ging das Hörerlebnis im Gurgeln und Schlürfen der Kaffeemaschine unter. Als Hilbig zum Abschluß der Lesung zu seiner Poetologie befragt wird, gibt er zu: „Ich tue mich schwer damit. Wenn ich eine Poetologie hätte, dann hätte ich sie schon oft geändert.“ Peter Walter

Der „Text und Kritik“-Band zu Wolfgang Hilbig (Nr. 123) ist 1994 in der gleichnamigen Edition in München erschienen.