Lokomotiven grüßen den Kalifen

■ Begonnen hat ihre Geschichte erst 1920, in einem Bildband wird sie nun dokumentiert: die „Deutsche Reichsbahn“

Sie haben alle den stolzen Blick des Eisenbahndirektors: Die alten Männer, die mit grauen Hüten und einem Stockschirm überm Arm, immer wieder vor einer dampfenden Lokomotive stehen. Wochen vorher hatte man den Fotografen bestellt, man trägt die Sonntagstoilette und hat sich auf spitzen Zehen über nasse Steine in diese würdige Positur gekämpft.

Diese feinen Herren und unendlich viel mehr hat Alfred Gottwaldt, Leiter der Abteilung Schienenverkehr im Museum für Verkehr und Technik, in seinem Bildband „Deutsche Reichsbahn“ dokumentiert. Begonnen hat die Geschichte der Reichsbahn eigentlich erst 1920, vorher gab es nur Länderbahnen, die sich vor einer „Verpreußung“ sträubten. Doch im Buch gibt es auch Bilder aus einer noch früheren Zeit: eine Lithographie von 1843 zum Beispiel, auf der ein aufrührerischer Künstler ein Porträt des Dichters Herwegh, der gerade wegen Freigeistigkeit aus Preußen ausgewiesen worden war, auf eine Lokomotive (Symbol des unaufhaltsamen Fortschritts!) malte.

Politische Parolen ziehen sich durch die ganze Reichsbahn-Geschichte. Auf den Zügen, die 1914 an die Westfront rollten, stand in weißer Farbe: „Reservisten Achtung! Am 2. September Ball in Paris!“, nach 1933 waren es dann „Kraft durch Freude“-Parolen. Man erfährt außerdem, daß der Waffenstillstand nach dem Ersten Weltkrieg in einem Speisewagen der Internationalen Schlafwagengesellschaft unterzeichnet wurde, daß Wilhelm II. ein „Reisekaiser“ war, der einen blauweißen Hofzug mit zwölf Wagen sein eigen nannte und schließlich, warum die Reichsbahn auch in der DDR noch Reichsbahn hieß.

Schließen wir mit einem Gedicht eines leider unbekannten Dichters, der im Jahr 1916 den deutschen Balkanzug auf einem DR-Palakt mit solchen Worten pries: „Armes Deutschland eingekreist. Glaubt man, daß es keinen Ausweg weiß. Aber mittels der Lokomotiven, grüßt man bald den indischen Kalifen.“ Volker Weidermann

Alfred Gottwald: „Deutsche Reichsbahn. Kulturgeschichte und Technik“. Argon Verlag 1994, 192 Seiten, 98 DM