„Menschen ohne Moral“

■ NRW-Stahlkonzerne lassen Holding absaufen / Verheerende Folgen für Werksrentner und Sozialplanbezieher

Hattingen (taz) – Es ist erst ein paar Tage her, da kam vom Chef des Thyssen-Konzerns, Heinz Kriwet, frohe Kunde für die Aktionäre: 245 Millionen Mark Konzerngewinn vor Steuern im letzten Geschäftsjahr. Und das laufende Jahr wird noch wesentlich fetter.

Nicht zuletzt wegen des boomenden Stahlsektors erwartet der Konzernboss jetzt einen Gewinn vor Steuern „näher bei 1 Milliarde Mark als bei 600 Millionen“. Als gestern diese Zahlen in der Aula des Hattinger Schulzentrums bekannt wurden, hagelte es Zwischenrufe von ehemaligen Stahlkochern, die sich von Kriwet & Co. um große Teile ihres vertraglich garantierten Einkommens geprellt sehen. In Kriwet, Krupp-Hoesch- Chef Gerhard Cromme und dem Klöckner-Boss von Rohr sehen die über Sozialpläne frühzeitig ausgeschiedenen Ex-Stahlwerker und Werksrentner nur noch „Verbrecher“, eine „Mafia, die uns betrogen und verraten hat“. Vor einigen Tagen hatte die von Thyssen, Krupp-Hoesch und den Stahlwerken Bremen (vormals Klöckner) gemeinsam gehaltene Vereinigte Schmiedewerke AG (VSG), die Holding einer in mehrere GmbH- Gesellschaften aufgefächerten Schmiedegruppe, Vergleichsantrag gestellt. Während davon die noch 2.250 in den GmbH-Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer vorerst unberührt bleiben, erwischte es die 1.640 Sozialplanbezieher und 1.850 Werksrentner voll. Sie bekommen von der Holding keinen Pfennig mehr. Die meisten verlieren dadurch auf einen Schlag 30 Prozent ihres Einkommens. Während die Werksrentner ihre Verluste – wenn auch verzögert – auf jeden Fall über den Pensionssicherungsverein ersetzt bekommen, müssen die Sozialplanbezieher jetzt mit Arbeitslosenhilfe oder Arbeitslosengeld auskommen. Die Differenz zwischen diesen Leistungen und 90 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens zahlte die Holding. Der gesamte Belegschaftsabbau im Stahlbereich wurde in den vergangenen Jahren über solche Sozialpläne abgewickelt. Durch den Vergleichsantrag der Schmiede-Holding, die die Sozialpläne aus den ausgebliebenen Gewinnen der GmbH-Gesellschaften bedienen sollte, entziehen sich die großen NRW-Stahlkonzerne nach den Worten des Hattinger IG-Metall- Bevollmächtigten Otto König „erstmalig den vertraglich zugesicherten Sozialplanleistungen“. Wenn dieser Versuch gelinge, dann sei bald „kein Sozialplan in der Stahlindustrie mehr sicher“. Die meisten der am Hattinger Standort betroffenen Menschen waren bis 1988 bei der seinerzeit geschlossenen Thyssener Henrichshütte beschäftigt – zwischen 18 und 35 Jahre lang. Daß Thyssen-Boss Kriwet und seine Mitstreiter diese langjährigen Mitarbeiter so eiskalt im Regen stehenlassen, empfindet König nur noch als „infames, böses Spiel von Menschen ohne Moral und einen Funken Anstand“. Die IG Metall ist überzeugt, daß die Konzerne zur Haftung verpflichtet sind. Weil sich ein juristischer Streit jedoch Jahre hinziehen könnte, hofft man auf einen Vergleich. Zumindest gegen Thyssen haben die Geprellten nach den Worten des IGM- Anwaltes Stein einen Trumpf in der Hand, denn Thyssen habe bis heute seine Einlagenverpflichtung nicht erfüllt. Statt vereinbarter 210 Millionen Mark brachte Thyssen vorwiegend Sacheinlagen von weit geringerem Wert ein. Mindestens 70 bis 80 Millionen Mark fehlen. „Jedes Landgericht“, so Stein, „kann das in zwei Wochen feststellen.“ Walter Jakobs