Ecuador/Peru

■ betr.: „Fern wie der Erste Welt krieg?“, taz vom 31. 1. 95

Eine absurdere Erklärung für den bewaffneten Konflikt zwischen Ecuador und Peru kann man sich kaum ausdenken. Dominic Johnson hält das Jubeln der Menschen in den beiden Andenstaaten angesichts der aufmarschierenden Streitkräfte für den Beweis dafür, daß für sie so „konkrete Dinge“ wie Grenzziehungen wichtig für „individuelle und kollektive Menschenwürde“ sind. Tatsächlich gibt es für die große Mehrheit der Peruaner und Ecuadorianer kaum etwas Abstrakteres als diese Grenze. Selbst diejenigen, die in den Genuß von einigen Jahren Schulbesuch gekommen sind, könnten nur in wenigen Fällen erklären, wo denn diese Cordillera del Condor liegt, in der sich die Schießereien mal wieder abspielen. Ihre Vorstellung von Realität ist eine völlig andere, und auf ein Stück Papier gezeichnete Landkarten – wobei die Grenzen natürlich auf den ecuadorianischen Karten anders verlaufen als auf den peruanischen – haben mit ihrer Realität genausowenig zu tun wie das abstrakte Gebilde „Staat“. Die Loyalitäten der Menschen bewegen sich auf den Ebenen der Verwandtschaft, des Dorfes, des Stadtteils, der Ethnie.

Warum jubeln sie trotzdem den Militärs zu? Weil sie vom Kindergarten an eingebleut bekommen, daß die „Patria“ das höchste aller Güter ist und über Jahre fast täglich regelrechte Gottesdienste vor den heiligen Symbolen – Fahne, Wappen, Hymne – dieses größten aller Vaterländer feiern müssen. Die Vorstellung von diesem Vaterland entwickelt sich dabei kaum über das Kindergartenniveau hinaus, denn jede kritische Reflexion über den Nationalismus wird systematisch unterdrückt. Daß die Peruaner die Feinde des Vaterlandes sind, wird jedem ecuadorianischen Kind in der Wiege gesungen. Die peruanischen Kinder müssen sogar über zwei Feinde Bescheid wissen: Chile und Ecuador. Diese Feindschaft hat soviel mit der Existenz oder Politik des jeweils anderen Landes zu tun wie der Antisemitismus mit den Juden. Die allermeisten Menschen haben noch nie einen ihrer „Todfeinde“ zu Gesicht bekommen, und wenn sie einen treffen würden, könnten sie ihn nicht von ihren Landsleuten unterscheiden.

Wozu brauchen die beiden Staaten ihre Feindbilder? Das Ritual wiederholt sich seit Jahrzehnten, und es funktioniert jedesmal prächtig: Werden die innenpolitischen Schwierigkeiten zu groß, dann inszeniert man einen Konflikt an der Grenze, und schon werden die regierungsfeindlichen Demonstrationen zu vaterländischen Hurra-Kundgebungen! Dies trifft in der augenblicklichen Lage zumindest für Ecuador zu: die Regierung von Sixto Durán übernahm 1992 die Macht mit einer Fülle von Versprechungen zur Modernisierung und Moralisierung des Staatsapparates sowie wirtschaftlichen Reformen. Seitdem jagt ein Korruptionsskandal den anderen und die wichtigste wirtschaftliche Veränderung besteht in der Verdreifachung der Konsumimporte für die städtische Oberschicht.

Darüber hinaus müssen die Militärs beider Seiten von Zeit zu Zeit ihre enormen Ausgaben rechtfertigen. Sie liegen irgendwo zwischen 30 und 50 Prozent der Staatshaushalte – die genauen Zahlen kennen in diesen „Demokratien“ nicht einmal die Parlamentarier, welche die Haushalte verabschieden. Daß die eigentliche Funktion des Militärs in der Repression des eigenen Volkes besteht, wie sie im Verlauf von zirka 170 Jahren republikanischer Geschichte Hunderte von Malen bewiesen haben, ist zwar den meisten Menschen irgendwie bewußt, gerät aber in Zeiten, wo Patriotismus gefragt ist, sofort in Vergessenheit. Die Militärs werden in den meisten lateinamerikanischen Ländern immer mehr zu einer parasitären Klasse, die nicht nur den Reichtum und die Macht anderer, sondern vor allem ihren eigenen perversen Luxus verteidigen. Aber sobald das Kriegsgeschrei ertönt, werden diese korruptesten aller Staatsdiener zu Volkshelden. Albrecht Benzing,

Witzenhausen