■ Ungarns Krise und die Ideologie des Sachverstands
: Verdrängungskünstler Gyula Horn

Aus einem Hund wird kein Speck. Dieses ungarische Sprichwort war manches Mal zu hören, als die Sozialisten im Mai letzten Jahres die Wahlen in Ungarn gewannen und mit absoluter Mehrheit ins Parlament einzogen. Zu hören war es freilich nur von einer Minderheit. Denn die Sozialisten konnten überwältigend große Hoffnungen mobilisieren und erfreuten sich selbst unter jenen, die nicht für sie gestimmt hatten, eines gewissen Wohlwollens: Erinnerung an die reformkommunistische „Expertenregierung“ unter Miklós Németh von 1989, die mit dem kommunistischen Machtmonopol brach und freie Wahlen zuließ.

Gut ein halbes Jahr sozialistischer Regierungzeit ist nun vergangen: Prüfstand eines wortreich verlautbarten Wandlungsprozesses. Aus den Exkommunisten, das ist die Lehre von sechs Monaten, sind nicht nur keine Sozialdemokraten geworden – wie von der Ungarischen Sozialistischen Partei seit Jahren immer wieder gerne behauptet. Die Sozialisten, scheint es, haben sich überhaupt wenig geändert.

Mit „Sachverstand“ versprachen sie Ungarn zu regieren. „Sachverstand“ war das Wort, auf das viele Wähler und Wählerinnen mit reflexartiger Sympathie reagierten: Sachverstand gegen ständiges Ideologisieren und Historisieren der abgewählten christlich-national-konservativen Regierung, Sachverstand gegen Klientelismus und Korruption und vor allem gegen ziel- und konzeptlose Wirtschaftspolitik.

Angesichts der Versprechen ist die Bilanz nach einem halben Jahr alarmierend. Ungarns wirtschaftliche Eckdaten weisen auf ein sich anbahnendes ökonomisches Desaster hin, wenn nicht sofort und streng gespart wird. Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung sind so hoch wie nie. Die Privatisierung ist zum Stillstand gekommen. Die Regierung besitzt immer noch kein einheitliches langfristiges Wirtschaftsprogramm, existierende Konzepte widersprechen sich. Der Ministerpräsident entblößt sich indessen vor der Öffentlichkeit mit Aussagen wie, die „Situation werde zu schwarz gemalt“, er sei „noch nicht über den wirtschaftlichen Zustand des Landes informiert“ worden und wolle „auf der nächsten Kabinettssitzung“ Material anfordern. Mit Sachverstand haben die Sozialisten bislang einzig an der Organisierung ihrer Macht gearbeitet. Der Vergangenheitsbewältigung aber, wo sie reiche Erfahrungen und Kenntnisse einbringen könnten, haben sie sich bis jetzt konsequent verweigert.

Die Regierung entließ die Direktoren und unliebsame Redakteure des staatlichen Fernsehens und Radios, beschwerte sich über „unobjektive“ Berichterstattung und will die Regierungskontrolle über sie auch im neuen Mediengesetz festgelegt sehen. Zwei Monate vor den Kommunalwahlen änderte das Parlament das Wahlgesetz, um die Chancen der Koalitionsmehrheit aus Sozialisten und Freidemokraten zu erhöhen. Die Inhaber der drei wichtigsten wirtschaftlichen Schlüsselpositionen, der Nationalbankpräsident, der Privatisierungsbeauftragte und der Finanzminister, wurden aus ihrem Amt gedrängt.

In Fragen Vergangenheitsaufarbeitung weigerte sich Horn erfolgreich, über seine Rolle als Milizionär bei der Niederschlagung der Revolution 1956 zu sprechen. Eine symbolische Entschuldigung für die Jahrzehnte kommunistischer Diktatur lehnten die Sozialisten ab. Und anläßlich der kürzlich begonnenen „Durchleuchtung“ – der Überprüfung der Parlamentsabgeordneten auf eine Spitzel-Vergangenheit – meinte unter anderem der sozialistische Parlamentspräsident, damit solle lieber Schluß gemacht werden.

Doch nicht nur auf politischem Feld zeigt sich, wie es um die Mentalität der Sozialisten bestellt ist, obwohl gerade sie Anlaß zur Zurückhaltung hätten. Vor allem hinter ihrer scheinbar konfusen Wirtschaftspolitik verbergen sich die alten Denkschablonen. Eine umfassende politische Restauration wird zwar kaum stattfinden, aber Ungarns Sozialisten träumen offenbar noch immer von einer Neuauflage des Reformkommunismus.

Namentlich in der Person des Regierungschefs überschneiden sich dabei persönliche Ambitionen mit einer Politik, die in Stil und Inhalt an alte Zeiten erinnert. Der gutmütig-gutwillige Landesvater Horn spricht seine Parteifreunde zuweilen (bewußt?/unbewußt?) mit Genossen an, setzt sich über institutionalisierte Strukturen hinweg, greift willkürlich in die Innen- und Außenpolitik ein, blamiert seine Minister und Diplomaten, improvisiert Kompromisse, die zu neuen Konflikten führen, lehnt eine „popularitätsverderbende“ Politik ab und offenbart angesichts der katastrophalen makroökonomischen Situation im Land ein bemerkenswertes Verdrängungsvermögen.

Die sozialistische Parlamentsfraktion gleicht ihrerseits einem „Volksfront-Bündnis“ mit „Delegierten aller gesellschaftlichen Schichten“: Exparteifunktionäre, Lobbyisten staatlicher Unternehmen und Genossenschaften, altkommunistische Gewerkschafter, überalterte Ex-KP-Jugendpolitiker, im Hauptberuf als Bürgermeister, Kombinatsdirektoren, Betriebsleiter, LPG-Vorsitzende, Schuldirektoren, Ingenieure, Facharbeiter, Tierzüchter, Schauspieler oder Arbeitslose „gesellschaftlich verankert“. In ihrer großen Masse blockieren diese Abgeordneten jede Reform, die mit sozialen Kosten verbunden ist, und glauben, Teil einer in ihrem Bewußtsein eher informellen als rechtsstaatlichen Verteilungshierarchie zu sein, innerhalb deren der Über-Staat sich um alle „Werktätigen“ kümmert.

Der kürzliche Abgang des Finanzministers Lászlo Békesi, des einzigen herausragenden sozialistischen Wirtschaftspolitikers, zeigt dabei nicht nur, daß die wenigen ernstzunehmenden sozialistischen Reformpolitiker und -ökonomen in den letzten Jahren keine einflußreiche Basis unter den Sozialisten gewinnen konnten. Unter anderem im Zusammenhang mit den von Békesi vorgeschlagenen Reformen wurden auch die nationalen Stimmen unter den Sozialisten lauter: Stimmen gegen den westlich-kapitalistischen Einfluß auf die einheimische Wirtschaft, gegen die „Verschleuderung“ nationalen Vermögens an ausländische Investoren, Stimmen für mehr Protektionsmus und die Bevorzugung inländischer Investoren, Stimmen für eine Koalition mit den national-konservativen Christdemokraten statt mit den liberalen Freidemokraten, Stimmen für einen „Dritten Weg“.

Also: Sozialistische Basis mit nationalem Überbau? Die Aussichten sind vorerst nicht beunruhigend, wohl aber größter Aufmerksamkeit wert. Einige protektionistische Maßnahmen und die Annullierung eines gültigen Vertrages mit einem ausländischen Großinvestor hat die Regierung auf Druck von Gewerkschafts- und Staatsunternehmen-Lobbys bereits vorgenommen. Solche Tendenzen werden sich verstärken – wenn Wirtschaftsreformen weiter verzögert, deshalb ihre Ergebisse in immer größere Entfernung gerückt und deren stabilisierende Folgen immer weniger absehbar werden. Keno Verseck, Budapest