Cats kann uns gestohlen bleiben

■ Mit der „West Side Story“ setzt Bremerhaven auf ein hausgemachtes Musical

An den Seiten hoch aufgeschichtete Müllberge, Halden aus Autoschrott. Weiter hinten führt eine steile Rampe zu einer Plattform. Dahinter ist die Skyline von Manhattan zu sehen, nachts funkeln die Fenster, manchmal verwandelt sich das fade Morgenlicht in magisches Blau. Dieses suggestive Bild von Christopher Hewitt balanciert zwischen Realismus und Stilisierung, es malt New York als mythischen Ort, wie er aus John Carpenters apokalyptischer Zukunftsversion bekannt ist: Eine verlorene Stadt mit ihren verlorenen Kindern. Da sind die einheimischen Jets und die zugewanderten Sharks, die um dasselbe Revier kämpfen. Die Jets: kettenschwingende, in schwarzes Leder gekleidete Grufties mit leichenblassen Gesichtern. Die Sharks: ein bunter Haufen, Hippie-Mähnen, schrille Farben, geflickte Tücher im Haar, Großstadtindianer.

Regisseur Peter Gisebach stilisiert die New Yorker Bandenmitglieder zu extremen Comic-Figuren, und trotzdem gelingt ihm das Unerwartete: Unaufdringlich und berührend setzt er in diese düstere und knallig-überdrehte Szenerie die grenzüberschreitende Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria, mit allem wundervollen Schmerz des ersten Augenblicks. Er vertraut in diesem intensivsten Moment seiner Inszenierung ganz auf Leonard Bernsteins phantastische Musik und auf die beiden Protagonisten, Romeo und Julia in den Slums. Die junge Gast-Sopranistin Itziar Real (Maria) ist für die Bremerhavener „West Side Story“ ein doppelter Glücksfall: Mit ihrer ebenso warmen und klaren, geschmeidigen und leuchtend-leichten Stimme setzt sie Maßstäbe, die sie für jedes renommierte Opernhaus attraktiv machen. Ihre zierliche Gestalt und ihre Ausstrahlung prädestinieren sie auch als Darstellerin. Ob die ewigen Evergreens „Maria“ oder „Tonight“, ob „One Hand, One Heart“, „I Feel Pretty“ oder „Somewhere“, kein Ton ist kitschig, kein Song wird ins Sentimentale heruntergesungen. An ihrer Seite kann sich sogar der in Bremerhaven häufig blasse Tenor Michael Putsch als Tony mit erstaunlicher stimmlicher Disziplin behaupten. (Daneben überzeugend: Katryn Dineen als Anita.) Das städtische Orchester muß sich erst warmspielen, aber dann hat der junge Dirigent Christoph Wohlleben es fest im Griff: Bernsteins komplexes musikalisches Gewebe, diese rasante Mixtur aus amerikanischem Jazz und europäischem Belcanto blättert er fein nuanciert auf: ebenso entschieden dynamisch wie betont gelassen. Das Grundkonzept, „West Side Story“ nicht zum Musical plattzuwalzen, sondern als großes Musiktheater zu behandeln (mit englisch gesungenen Texten), ist aufgegangen: Bernsteins Musik trägt über alle Schwächen der Inszenierung souverän hinweg.

Zu den Schwachstellen gehören die deutsch gesprochenen Dialoge, mit denen sich die Bandenmitglieder quälen müssen: Unerträglich platte Sprechblasen aus den diversen Wörterbüchern des neuen Jugendjargons, die Grisebach als Aktualisierung verstanden wissen will. Schwach ist auch das aufdringlich chargenhafte Spiel der Erwachsenen (Polizist, Inspektor, Ladenbesitzer), das eher an Ohnsorg-Theater als an Großstadtdschungel erinnert. Der Chef des Stadttheater-Balletts, Ricardo Fernando, wird unglücklich in eine Sprechrolle gepreßt. Als Anführer der Sharks macht er zwar tänzerisch eine gute Figur, aber die heisere Stimme kann nicht überzeugen. Als Choreograph gelingen ihm dagegen wild bewegte Massen-Szenen zwischen heißem Kampf und fröhlichem Klamauk („America“), die teilweise von zwei Dutzend TänzerInnen gleichzeitig ausgeführt werden. Einsamer Höhepunkt inmitten aller quirligen Lebendigkeit ist jedoch eine leise Sequenz: das Traumballett, das Bruno Mora und Carla Silvia – ganz in schwarz im Hintergrund – vor der magisch blauen Silhouette New Yorks tanzen, während vorn Tony und Maria zwischen all dem Müll auf ihrem einsamen Bett liegen und singen: „Somewhere“. Da kommen dem gerührten Rezensenten nicht zum erstenmal die Tränen. Und fast hätte er die Frage vergessen, warum Grisebach den satirisch-frechen Anti-Polizisten-Song „Gee, Officer Krupke“ weggestrichen hat.

Mit der „West Side Story“ will Intendant Grisebach erst dann aufhören, wenn die Nachfrage ausbleibt. Bis dahin wird die Produktion ausschließlich im freien Verkauf angeboten, und sei es für Jahre. Griesebach glaubt an sein Konzept: Im subventionierten Musentempel (mit seinen günstigen Preisen von 4 – 38 DM) werde es unter seiner Leitung kein „Maschinenmusical geben, keinen Unterhaltungskitsch als Wirtschaftsfaktor.“ Ob er das durchhalten kann?

Hans Happel

„West Side Story“, im Stadttheater Bremerhaven, Großes Haus: die nächsten Vorstellungen am 9.2/24.2/2.3/8.3/30.3.

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