Sanssouci
: Nachschlag

■ Rachmaninows Chorwerk in der Friedrichstadtkirche * Gelebte, gelesene und losgelöste Hormone im Roten Salon

Rachmaninows umfangreiches Werk ist, abgesehen vom Piano-×uvre (darunter besonders das zweite Klavierkonzert, dem die eigentümliche Ehre zuteil wurde, bei einem Marylin-Monroe-Film als Begleitmusik zu dienen), hierzulande kaum bekannt. Der 1987 als studentisches Ensemble gegründete „Neue Chor Berlin“, der sich in seinem Repertoire neben anderem auf die Aufführung von Raritäten spezialisiert hat, hat in zwei Konzerten in der Passionskirche und der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt das abendfüllende A-capella- Werk „Das große Abend- und Morgenlob“ aufgeführt.

Sergej Rachmaninow schrieb diese „Vespermesse“ 1915, zwei Jahre vor seinem Gang ins französische und später kalifornische Exil, und krönte mit diesem seinem letzten liturgischen Werk der Rückbesinnung auf volkstümliche Melodien des 12. bis 17. Jahrhunderts die Erneuerungsbewegung des russisch-orthodoxen Kirchengesanges zur Jahrhundertwende. Fremd mochte diese Musik jenem erscheinen, der nur die Klaviermusik kennt; tritt doch der Klangkünstler Rachmaninow gegenüber dem Passagenwerk-Virtuosen in den Vordergrund: Der bis zu zwölfstimmige Chorsatz verlangt keine augenfällig virtuosen Einlagen, sondern spreizt die Tonhöhenbereiche der Einzelstimmen ins Extreme und verlangt größte dynamische Differenzierung.

Der Neue Chor Berlin machte diese enormen Schwierigkeiten vergessen und berauschte bereits mit seinem gedehnten, unglaublich fein austarierten Crescendo auf dem ersten Akkord. Frei von Artikulations- oder Intonationsproblemen anderer Chöre konnte man sich in die Musik Rachmaninows begeben, die seltsam und doch ganz eigen zwischen ihrem Rückgriff auf russische Traditionen und einem lichtwogenden, fast Brahmsschen Tonsatz schwankte. Der junge Leiter und Gründer des Chores, Joachim Geiger, dirigierte präzise-vital, erlaubte sich kleine Spaziergänge, um einzelne Stimmgruppen besonders zu animieren, und führte den Chor zu einer bravourösen Gesamtleistung, dem auch die Solisten (Clemens C. Löschmann, Tenor, und Martina Steinhart, Alt) nicht nachstanden. Ein Vokal-Ensemble, das wohl nicht nur in Berlin seinesgleichen sucht. Das junge Publikum dankte es in der überfüllten, völlig ausverkauften Französischen Friedrichstadtkirche enthusiastisch. Fred Freytag

NachschlagGelebte, gelesene und losgelöste Hormone im Roten Salon

Der Hausverstand denkt bei Hormonen an Rinderwahnsinn, Schwangerschaftswünsche, Pubertäten und so weiter. Natürlich ist es viel einfacher: „,Hormon‘ kommt von dem griechischem Wort ,horman‘ und bedeutet anregen, antreiben, in Bewegung setzen“, erklärte Wolfgang Müller, der vogelfreundliche Künstler („Tödliche Doris“) und Herausgeber des Sammelbandes „Die Hormone des Mannes“, in der Volksbühne am „Radio-Luxemburg-Platz“, wie eine US-Kollegin schrieb. So breit angelegt wie die Müllerschen Hormone waren auch die Texte, Szenen und Lieder, die die AutorInnen Samstag und Sonntag abend im „Roten Salon“ präsentierten.

Der Schweizer Künstler Ueli Etter zeigte ein Video, in dem er als Frau in Rosa einen Text verlas, der vom restlos produktiven „Sex“ – der Zellteilung – zu vergnüglich unproduktiven Geschlechtlichkeiten überging, bis auch der Papa hineinspielte, dem nichts eingefallen war, als er in der Schule zum Thema: „Ich habe Angst vor ...“ schreiben sollte. Der geniale gehörlose „Kumpelnest“-Barkeeper Gunter Puttrich-Reignard trug fünf Gedichte in Gebärdensprache vor. Es gäbe keine Sprache, die bewegter wäre, hatte Müller zuvor gesagt, und das stimmt und ist sehr faszinierend anzuschauen. Denn die Gebärdensprache liegt an der Schnittstelle zwischen szenischer Darstellung und der Welt der Worte. Lang könnte man darüber sinnieren, was das für die festgefügte Wort- und Begriffswelt bedeuten mag. Am beeindruckendsten war es jedenfalls, wie Puttrich-Reignard, fremde Worte wie „irisierend“ gebärdete. Während die meisten nach dem Vortrag klatschten, gebärdeten andere Beifall, was schön aussieht und an auffliegende Vögel erinnert. Die Wort-Texte wurden für Gehörlose von Dinah Tabbert in Gebärden übersetzt.

Der Pop-Biologe Cord Riechelmann berichtete vom „Allomothering“ der Berberaffen. Interessant ist an ihnen, daß die Männchen häufig das Babysitting übernehmen. Der Kollege Harald Fricke klinkte sich in eine sehr rührende Party- und Kennenlern-„line“ ein und wuselte lustig zwischen männlichen, weiblichen und diversen Wünschen hin- und her. (Besonders schön: die Musik der Endlosschleifen, die im Reich des Telefonkennenlernens nicht anders ist als bei der Gasag). Françoise Cactus ließ Teile ihrer zarten Teenagerbiographie von Brezel Göring und Ogar Grafe theatralisch in Szene setzen. Heinz Emigholz („Seit Freud gesagt hat, der Künstler heile seine Neurosen selbst, heilen die Künstler ihre Neurosen selbst“), interpretierte eigene Bilder, und am Ende sangen Susi Pop, Käthe Kruse und Oliver Weidner ein seltsames Lied („Zatteltracht im Zauberwald“), dessen minimalistisch verspielte und doch sehr präzise Melancholie an die besten Westberliner Pop- und Kunsttraditionen anknüpfte. Weit ist die Welt der Westhormone. Detlef Kuhlbrodt