■ Folgen der Korruption im politischen System Frankreichs
: „Die“ und „wir“

Der französische Politikwissenschaftler Yves Meny ist seit einem Jahr Direktor des Robert-Schuman-Zentrums an der Europäischen Universität in Florenz. Sein nächstes Projekt: Populismus in Europa.

taz: In Frankreich sind in den vergangenen vier Monaten drei Minister wegen Korruption zurückgetreten. Erstaunt?

Yves Meny: Erstaunlich ist es schon, daß die Korruption nach dem Bekanntwerden der ersten Skandale, nach den ersten Verurteilungen und sogar nach den Amnestien, die in den Reformen zur Parteienfinanzierung vorgesehen sind, weitergegangen ist. Erstaunlich ist auch, daß es so viele Rücktritte gab. Auf eine gewisse Art hat sich die Regierung Balladur zur Geisel ihrer eigenen Haltung gegenüber den Sozialisten gemacht. Die Rechte hat die Sozialisten stigmatisiert, als sie sagte: Die Sozialisten halten schöne Reden und sind in Wirklichkeit korrupt. Wenn man nach so einer Feststellung anschließend selber die Hand ausstreckt, ist der Preis besonders hoch. Genau dasselbe hatten ein paar Jahre vorher die Sozialisten getan: erst moralische Reden geschwungen, dann gesündigt. Heute ist das politische Desaster da.

Wem nützt diese Situation?

Wenn es morgen Parlamentswahlen gäbe, wäre das sicher zum Nutzen von Protestparteien und Populisten. Ich wäre nicht erstaunt, wenn es in Frankreich einen Wählerprotest nach italienischem Typ gäbe, wenn auch weniger stark. Die öffentliche Meinung ist davon überzeugt, daß die Korruption in Frankreich sehr weit fortgeschritten ist und daß man sie ganz oben antrifft. Das bestätigt den Gegensatz zwischen „denen“ und „uns“, zwischen der Elite und dem Volk, der heute viel wichtiger geworden ist als der zwischen rechts uns links. Diese Situation, gepaart mit der wirtschaftlichen und sozialen Krise, nutzt allen möglichen Populisten – so widersprüchlich sie in ihren Positionen sind.

Sie rechnen demnach mit populistischen Zugewinnen bei den Wahlen im Frühjahr?

In Italien wurden die Populisten bei Parlamentswahlen stark. In Frankreich stehen aber Präsidentschaftswahlen an. Im ersten Durchgang könnte es natürlich eine Menge Stimmen für Le Pen und de Villiers geben. Aber wer auch immer gewählt wird, es wird schwer sein, die öffentliche Meinung zurückzuerobern und das demokratische System zu relegitimieren.

Das klingt sehr nach „italienischen Verhältnissen“. Wie weit gehen die Ähnlichkeiten?

Man muß immer aufpassen beim Vergleichen, aber es gibt Parallelen. Le Pen zum Beispiel repräsentiert die extreme Rechte, noch rechts von Fini, der persönlich nie rassistische Positionen vertreten hat. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede: Erstens ist die französische Bürokratie relativ solide und funktioniert einigermaßen, was in Italien nicht der Fall ist. Zweitens regierte in Italien seit 40 Jahren dieselbe politische Klasse das Land – mit Zustimmung der Opposition. Nicht einmal die frühere kommunistische Partei, die PDS, erschien da noch als alternative Kraft.

Der politische Erfolg von Leuten wie Tapie und Medecin zeigt, daß Affären nicht unbedingt Karrierehindernisse sein müssen. Gibt es in Frankreich eine Sympathie für Rechtsbrecher, eine Mentalität, die Korruption begünstigt?

Ja, im Fall von Tapie ist das ein Faible für Robin Hood. Er ist ein Räuber, aber ein Sympathischer. Man hat den Eindruck, er sei der Freund des Schwachen. Bei Medecin liegt der Fall anders, da ist es das Resultat von Klientelismus, aber das ist manchmal schwer von Korruption zu unterscheiden. Die Familie, Vater und Sohn Medecin, regieren Nizza seit 67 Jahren. Wir haben viele Bürger, die die Macht wie eine persönliche Bindung zwischen Politiker und Bürger verstehen: Ich gebe dir meine Stimme und du gewährst mir Vorteile. Die Franzosen verstehen ihre Abgeordneten nicht nur als Vertreter einer Partei und einer Ideologie, sondern auch als Versorger.

Woran liegt es, daß Korruption in Südeuropa häufiger zu sein scheint als im Norden?

Ich glaube, daß in den Ländern des europäischen Nordens die Sensibilität für Korruption größer ist als im Süden, wo der Interessenkonflikt zum Alltag gehört. In Deutschland gab es eine Menge Minister, die wegen Problemen zurücktreten mußten, die in Frankreich nicht zur Kenntnis genommen worden wären. Neulich ist herausgekommen, daß Jacques Chirac ein Empfehlungsschreiben für die „Lyonnaise des eaux“ an arabische Länder verschieckt hat – „sehr gutes Unternehmen“ et cetera. Das gab überhaupt keinen Skandal. In Deutschland hätte er wahrscheinlich zurücktreten müssen.

Geht das Verdienst an der Aufklärung hauptsächlich auf das Konto unerschrockener Richter?

Es ist paradox, das wir zwei oder drei Richter in Frankreich haben, die mutiger und hartnäckiger sind als andere. Das ist genau wie in Italien. Nehmen Sie ein System von Ventilen als Metapher. Wenn Sie die nur ein bißchen öffnen, bleibt alles unter Kontrolle und sie können wieder zumachen, aber wenn sie einmal weit geöffnet sind, wird der Druck so hoch, daß man nicht mehr zumachen kann.

Was wäre denn, wenn es von einem auf den anderen Tag keine Korruption mehr gäbe?

Ich glaube nicht, daß man die Korruption völlig eliminieren kann. Es gibt zwei Bereiche, wo sich die Unternehmen Bestechung zur Gewohnheit gemacht haben. Erstens bei internationalen Verträgen, da ist das leider ziemlich häufig und da sind die französischen Unternehmen nicht die einzigen. Zweitens ist in Frankreich die Bestechung auf der lokalen Ebene Gewohnheit. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Ein „guter Grund“ ist, wenn ein Bürgermeister ein kommunales Unternehmen bevorzugt, weil das „die Beschäftigung sichert“. Der gute Grund ist aber zugleich schlecht, weil ein Bürgermeister sich vor allem darum kümmern sollte, den besten Vertrag zu kriegen.

Sehen Sie den politischen Willen, mit der korrupten Praxis Schluß zu machen?

Es gibt sicher Politiker, die ehrlich sind und dieses System beenden wollen. Aber die Parteien sind bei ihrer Manövrierfähigkeit eingeschränkt, weil viele Bestechungen in Frankreich an politisch- administrative Praktiken gebunden sind, die man nicht antasten will. Zum Beispiel die Häufung von Mandaten auf der kommunalen, regionalen und nationalen Ebene und der Wechsel von Spitzenfunktionären in die private Wirtschaft. Bisher war die politische Klasse hin und her gerissen, weil zu viele eigene Interessen im Spiel sind. Man schleicht um den heißen Brei herum, will die öffentliche Meinung befrieden, ohne die Dinge an der Wurzel zu packen. Da gibt es noch eine Menge zu tun. Interview: Dorothea Hahn/Paris