Wenn die Barbarenorgel zaubert

■ Mehr Spaß an Neuer Musik: Michael Riessler und das Ensemble „Barbarie mécanique“ waren mit ihren bizarren Instrumenten bei Radio Bremen zu Gast

Ein ungewohntes Bild für ein Konzert mit Neuer Musik bei Radio Bremen: der Tamburinspieler Carlo Rizzo, der Akkordeonist Jean Louis Matinier, der Drehorgelspieler Pierre Charial, dem die gestanzten Lochkarten aus seinem Instrument herausfallen, dazu der Kontrabassist Renaud Garcia-Fons und der Klarinettist und Saxophonist Michael Riessler. Aufeinander eingeschworene Solisten der Spitzenklasse alle; sie interpretierten als „Barbarie mécanique“ Auszüge aus „Momentum mobile“ von Michael Riessler. Das Stück wurde 1993 in Donaueschingen in der Besetzung Schlagzeug, Streichquartett und Blechbläserquintett uraufgeführt; in Bremen aber erklang jetzt das Arrangement für die Instrumente des „Barbarie Mécanique“.

Sicher geht die Modernität und Komplexität des Werkes hinsichtlich seines politisch-ästhetischen Anspruches ein wenig verloren: Riessler versucht nämlich mit dem Begriff „Barbaren“, den er der mittelalterlichen Bezeichnung der Drehorgel als „orgue de barbarie“ entlehnt und umdeutet, verschiedene musikalische Identitäten zu finden, zu gestalten, miteinander zu konfrontieren. „Die Beachtung dieser Vielfalt von Identitäten kann vielleicht das Massaker verhindern“, meint der Komponist.

Das kann Musik natürlich nicht, aber die ästhetische Idee, die Riessler verfolgt und gestaltet, vermittelt sich schon, indem er bei den ZuhörerInnen reiche Assoziationen anLandschaften oder Tänze erreicht – dadurch bezieht er sie immer ein in seine Idee von „gestalteten Innenräumen versus wilde Außenzonen“.

Riesslers Kompositionsstil speist sich aus den Elementen Jazz, Folklore verschiedenster Herkunft und der ungebremsten Lust an der Virtuosität. Selbstredend verwendet er auch instrumentale Praktiken der experimentellen Avantgarde. Das alles könnte eklektizistisch sein, denn seine Stücke haben auch noch eine unverhohlen einfache Dramaturgie: Spannung und Entspannung, langsam und schnell, Solo und Tutti, es gibt Melodie, Perioden, Sequenzen. Aber die genuine Art und Weise, wie er diese Elemente in immer neue und unerwartete Konstellationen bringt, ist so einfallsreich und originell, mal still und poetisch, mal wild und aggressiv, daß man aus dem Staunen kaum herauskommt.

Und das auch noch bei der jetzt gebotenen reduzierten Fassung, die natürlich besonders das Element der Virtuosität herauskehrt. Der Kontrabaß klingt wie eine Geige oder ein Cello: Renaud Garcia-Fons scheint mit dem sperrigen Instrument machen zu können, was auch immer er will. Das von Rizzo präparierte Tamburin klingt nach vier oder fünf Perkussionsinstrumenten, wenn der Spieler es mit atemberaubender Schnelligkeit mit der rechten Hand beklopft und beschlägt.

Die Drehorgel ist durch die gestanzten Lochkarten in der Lage, in einem Tempo und mit einer Orchesterwirkung zu klingen, wie es durch manuelles Spiel nicht möglich wäre, das Knopfakkordeon erzeugt gläserne und poetische Klänge.

Michael Riesslers Atemtechniken schließlich erlauben ihm mit seinen Klarinetten und Saxophonen scheinbar alles. Von jedem einzelnen Spieler fordert Riesslers Komposition ein hohes Maß an Virtuosität – ohne äußerste Identifikation ist das kaum zu machen. Erst dadurch wird ein durchaus politisches Moment glaubwürdig hereingeholt: das Recht auf Individualität.

György Ligetis Klavierstücke „Musica Ricercata“ auf die Drehorgel zu übertragen, war ein nettes und eindrucksvolles Spielchen. Daß Pierre Charial mit diesen Stanzungen und einer bestimmten Art, das Antriebsrad zu drehen, präziser und vielstimmiger spielen kann als jeder Mensch, bewies er noch mit zwei anderen Stücken, wovon das improvisierte eine ganz besondere Spannung hatte.

Wer hätte gedacht, daß man in einem Konzert mit der angeblich anstrengenden Neuen Musik so viel Spaß haben kann: Das Publikum im ausverkauften Saal kam voll auf seine Kosten. Und in der Eiswüste, die Norddeutschland in Sachen Neuer Musik noch immer ist – wenn sich auch schon so einiges bewegt – , gibt es einen schönen kleinen Hoffnungsschimmer: Michael Riessler steht auf der Anhörungsliste für eine Professur für angewandte Komposition an der Universität Oldenburg. Da sollte man nicht lange überlegen, wenn Kreativität und Innovation, Vielseitigkeit und Flexibilität Kriterien sind. Ute Schalz-Laurenze