Eine Amerikanerin in Berlin

New York Times habe ich es gelesen, also muß es stimmen.

Die Times brachte einen neunseitigen Artikel über den Verlust der Berliner Luft. Anscheinend hat sie sich in Ennui verwandelt, was unter PR-Aspekten nicht das schlimmste wäre: Es wirkt irgendwie französisch, und französisch bedeutet gutes Essen, gepflegtere Langeweile und daß es nicht so bedrohlich wirkt, wenn man sich Europa unter den Nagel reißt. Die Times schien geradezu besorgt, die Deutschen würden so französisch, daß sie Europa gar nicht mehr wollten. Die Deutschen hätten die Richtung verloren, ebenso wie ihre mythische Tüchtigkeit und ihren Größenwahn. Und das ist anscheinend entsetzlich.

Foto: Christian Schulz

Amerika braucht Deutsche mit Größenwahn, oder jedenfalls die Times. Auf jeden Fall brauchen es die Franzosen. Allemagne – düsterer Nachbar, neben dem man sich besser vorkommen darf. Allemagne, Ausgangspunkt von Tragödien, ohne die man nicht leben kann. Glaubt man der Times, ist das alles Geschichte.

Mark Palmer, ein ehemaliger US-Botschafter in Ungarn, der jetzt in Berlin lebt, wird so zitiert: „Berlin könnte die wichtigste Stadt der Welt sein, aber nach den letzten fünfzig Jahren haben sich die Deutschen Zurückhaltung angewöhnt und alles Draufgängertum verloren.“ Man denke: Deutschland zurückhaltend! Wenn die Franzosen sich Sorgen machen sollten, Frankreich und Deutschland würden sich zu ähnlich, mit all dem neuen deutschen Ennui und dergleichen, dann können sie sich das jetzt schenken. Zurückhaltung hat den Franzosen noch niemand vorgeworfen.

Beleg für den Berliner Ennui, so die Times, ist das Debakel am Potsdamer Platz. Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer ist er noch immer zum größten Teil unbebaut, und die Times brachte ein Panorama-Foto über 360 Grad und acht Seiten, um das zu beweisen. Die 35 größeren architektonischen Projekte für dieses Gebiet können die Times dabei nicht stören. Die fünfjährige Verzögerung sei ausreichender Beweis für Berlins neue Saumseligkeit, heißt es, ganz zu schweigen davon, daß sich der Regierungsumzug bis ins Jahr 2000 verzögert.

Fünf Jahre sind wirklich eine lange Zeit. Allerdings sollte man festhalten, daß Washington D.C. von 1780 bis zum Beginn unseres Jahrhunderts nicht mehr als ein Sumpf war, in dem niemand länger verweilen wollte, als es für die Kongreßsaison unbedingt erforderlich war. Aber die Times wollte von diesen fünf Jahren nun mal schockiert sein – vermutlich mit Recht. Hätte Deutschland fünf Jahre gebraucht, um das Sudetenland zu annektieren, wäre nie was draus geworden.

Die Deutschen haben nicht nur ihren zielgerichteten Größenwahn gegen zurückhaltenden Ennui eingetauscht, meint die Times, sie versinken sogar schon fast im Morast der Nostalgie. Den Beweis sieht die Times in den Baurichtlinien des Berliner Baudirektors Hans Stimman. Sie konzentrieren sich auf das, was Stimman „die europäische Art des Städtebaus“ nennt – niedrige, rechtwinklige Gebäude eng zusammenstehend auf Straßen und Plätzen. Kritikern wie dem Architekten Daniel Libeskind sind diese Richtlinien ein künstlicher Rückfall in ein revisionistisches Weimar, ohne sich auf die lebendige, übergreifende Kunst jener Epoche einzulassen. Kurz: Berlin ist zur Vermünchung verurteilt.

Mein Urteil über den Verlust der Berliner Luft behalte ich mir erst mal vor. Wenn man die Urteile der Times auch sicherlich ernst nehmen muß, gibt es doch einige Hinweise, daß die Stadt weder in Nostalgie noch in Untüchtigkeit versackt. Was die Nostalgie angeht, konnte sich mein Lufthansa-Flug einer angeregten UJA-Gruppe (United Jewish Appeal) aus Allentown, Pennsylvania, rühmen. Ich möchte hervorheben, daß es eine Gruppenreise war, kein vereinzelter Rassenverräter, und daß die UJA von Allentown sich für die Lufthansa entschieden hatte. Als ich klein war, hätte meine Mutter – UJA von Queens, New York – noch nicht mal ein Streichholz aus Deutschland gekauft. Berlin kann also nicht völlig abstoßend sein. Die Juden aus Allentown können sich nicht alle irren.

Was die Tüchtigkeit angeht, war meine Reise nach Berlin von den Besonderheiten des deutschen Perfektionismus begleitet: Die Essenstabletts der Lufthansa waren sauber; das Brötchen war eßbar; auf dem Klo gab es Seife, und Salz und Pfeffer ließen sich problemlos aus ihren kleinen Papierpäckchen schütteln. Vor allem waren nicht nur die Kopfhörer in einem vakuumverpackten, sterilisierten Plastikbeutel untergebracht, auch die kreisförmigen Schaumkissen für die Hörer steckten in einem Plastikbeutel, das nach seiner zylindrischen Form zu urteilen auch als Kondom verwendet werden könnte.

Allerdings ist mir aufgefallen, daß das ehemalige Ost-Berlin 150.000 Arbeitsplätze in der Produktion verloren hat, weil nach dem Mauerfall veraltete Fabriken zugemacht wurden, und daß auch dem ehemaligen West-Berlin 65.000 Arbeitsplätze verloren gingen, wegen des Verlusts an Regierungssubventionen, mit denen die Berliner Wirtschaft im Kalten Krieg gestützt wurde. Das könnte einiges zum Verlust an Berliner Luft beigetragen haben, aber wenn bei der Eröffnungsparty des Festivals die Salz- und Pfeffer-Päckchen funktionieren, dann will ich zufrieden sein. Oder wenn alle zylindrisch geformten Kunststoffteilchen ihre Dienste tun. Marica Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

Unsere Berlinale-Kolumnistin Marcia Pally ist Filmkritikerin für „Penthouse“ und den Sender WBAI in den USA, hat zwei Bücher über Zensur geschrieben und lehrt an den Universitäten von New York und Fordham.