Unorte: Unsensibilitäten Von Claudia Kohlhase

Sind Sie auch so sensibel? Also ich bin unglaublich sensibel. Und das ist ja auch in Ordnung, man soll ja auch sensibel sein. Wofür bräuchte man sonst Zebrastreifen oder Fußgängerzonen oder ähnlich sensible Bereiche? Wer sensibel ist, hat sicherlich mehr vom Leben als jemand, der anderen Leuten immer auf den Kopf haut und sich nichts dabei denkt. Oder dem die Straßenbahn über die Zehen fährt und er nimmt das nicht persönlich. Dann lieber sensibel sein und aua schreien, auch wenn Passanten in ihren Tagesgeschäften innehalten müssen, um ein Sensibelchen durchzulassen. Wohlgemerkt ein Sensibelchen mit platten Zehen. Aber so jemand hat es berechtigterweise eilig, auch wenn er grade nicht so gut zu Fuß ist. Das kommt daher, daß Sensibelchen meist nervöser sind als andere Leute und gerne schneller irgendwo hinkommen, um sich auszuruhen.

Sensibelchen trifft man nach solchen Erlebnissen durchaus in Cafés, wo sie als einzige Salat essen. Und zwar was für einen Salat – mit Scampis, mit Mangos, mit Lollo rosso in Balsamico. Ein Salat, für Sensibelchen wie geschaffen, und nicht bloß asynchrone Blattanordnungen, in denen rohe Gemüter herumwirtschaften. Sensibelchen aber sind nicht nur sensible Esser, sondern ebenso sensible Bungeespringer, Zoohandlungsbesucher oder Operationspatienten, die noch beim ersten Schnitt ins eigene Fleisch die Sprechstundenhilfen im Wartezimmer Lesezirkel lesen hören. Ein Glück eigentlich, wenn Sensibelchen auf derart sensible Sprechstundenhilfen treffen und nicht auf solche, die sich über Pansen unterhalten oder über ihren Schwager, der immer palettenweise einkauft, meistens Pansen. Wenn jetzt jemand glaubt, Sensibelchen hätten es schwerer als andere, dann möchte ich mal die sehen, die bei Pansen ruhig bleiben können, auch wenn sie betäubt sind.

Sensibelchen wissen übrigens als letzte, daß Ärzte auch nur Menschen sind und abends unbezahlt in Vorträge über Goethe gehen, damit sie tagsüber weiter humanistisch handeln. Das muß man ihnen nicht mal nachmachen und kann trotzdem weiter sensibel sein. Als Alternative können Sensibelchen ja selber lesen oder in gebührender Entfernung von Straßenbahnen, etwa in Wohnvierteln, spazieren gehen. Eigentlich geht kein Mensch in Wohnvierteln spazieren, es sei denn, er sei ein Sensibelchen, das Nachbarfenster auf politisch korrekte Blumentöpfe hin abklopft und einmal in seinem Leben eine Keramikklingel bedienen möchte, die man nur in Wohnvierteln antrifft. Zwar wohnen auch woanders Menschen, aber da gehen Sensibelchen lieber nicht hin. Dafür wohnt ein Sensibelchen zu gerne selbst, als daß es irgendwohin geht, wo unsensibel gewohnt wird.

Es wird jetzt niemand wundern, daß Sensibelchen nicht wirklich wissen, welche von 97 Joghurtsorten man essen muß, um sensibel zu bleiben. Im Zweifelsfall wird ein Sensibelchen lieber ein Joghurt ohne Crispies, Knuspies oder Crusties essen, damit es schön rutscht. Kauen tut ein Sensibelchen schließlich schon genug, und sei's an den Dingen des Lebens. Immer noch besser an so was als an Joghurts, die von Crispies künden, als ginge es hier um etwas jenseits von Joghurt. Da sieht man aber mal, worüber durchschnittlich Unsensible sich den ganze Tag aufregen.