Die „idyllischen Gärten“ sind erstarrt

In einer entlegenen Ecke Europas, zwischen Moldova und der Ukraine, hält sich ein letztes kleines Stück Kommunismus: Transnistrien, Hort offizieller Nostalgie und privater Verzweiflung  ■ Von Keno Verseck

Ein bleierner Himmel bedeckt die Zone. Bleierner Regen fällt, lautlos, endlos. Der Tag erstarrt im Zwielicht. Langsam passiert die Limousine die Panzersperren. Über der Baracke weht matt und schwer vom Regen die blaue Fahne der russischen Friedenstruppen. Sie halten Wache, durchsuchen Wagen nach Waffen. Nach der Kontrolle winkt ein hochgerüsteter Soldat zur Weiterfahrt.

Die zweite Grenze folgt nur wenige Kilometer nach der ersten. Diesmal kontrollieren transnistrische Separatisten. Das Wachhaus stammt aus alten Sowjetzeiten, als es überall an den Stadträndern Kontrollposten gab. Auch die rotgrünrote Fahne ist die alte: die der „Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik“. Doch so wenig wie die neue, vier Jahre alte „Transnistrische Sozialistische Sowjetrepublik“ von irgend jemandem anerkannt ist, so wenig nehmen es die Garden mit der Grenzkontrolle ernst. Sie unterhalten sich mit einem Lkw-Fahrer und lassen andere Wagen einfach passieren.

Ein Stück weiter ragt ein Monolith aus Beton empor. Ein roter Stern ist daran befestigt. Die Jahre haben sein Leuchten verzehrt. „Unsere Stärke liegt in der Einheit“, steht auf russisch auf einer Tafel. Eine andere Aufschrift begrüßt den Besucher in aller Knappheit: „Willkommen!“, steht da auf rumänisch, geschrieben mit den Buchstaben des kyrillischen Alphabets.

Hügelabwärts erstreckt sich die Stadt Tighina-Bender. Die jeweiligen Herrscher gaben der Stadt den jeweiligen Namen: Tighina hieß sie unter den Rumänen, Bender unter den Russen. Der Name wechselte in den vergangenen fünfhundert Jahren fortwährend. Nun haben die moldovanischen Behörden sich eine halb salomonische Lösung ausgedacht: „Tighina (Bender)“, so lautet die offizielle Schreibweise.

Der alte sowjetische Reiseführer berichtet von „idyllischen Gärten“. Aber zu sehen sind nur Neubaublöcke, überragt von einem riesigen Silokomplex. Hinter Festungswällen verschanzt sich die Armee mit ihren Gerätschaften. Zerschossene Gebäude und Ruinenreste, rote und rotgrünrote Fahnen säumen die Straße, hier und dort sind Sperren und Stacheldraht ausgelegt. In der Nähe des Flußufers steht das von früher her übliche Panzerdenkmal, Modell T-34 aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Stück weiter bewacht ein Soldat Artilleriekanonen. Sie sind mit Planen abgedeckt, aber einsatzbereit.

Hier, in Tighina-Bender, kam es im Sommer 1992 zu den erbittertsten Kämpfen zwischen der moldovanischen Staatsmacht und den russischen Separatisten von Transnistrien. Die Frontlinie verlief halb zwischen den Nationalitäten, zwischen Rumänen und Russen, halb zwischen orthodoxen russischen und moderaten rumänischen Kommunisten.

Wichtiger war der Fluß Dnjestr, nach dem ja auch die von Separatisten beherrschte Region auf dem linken Flußufer „Transnistrien“ heißt. Der Krieg brach los, als die Separatisten auch auf der rechten Seite einen Vorposten errichteten. Die moldovanische Armee konnte die Stadt gegen die Übermacht der 14. Russischen Armee, die den Separatisten militärische Hilfe leistete, nicht zurückerobern. Moldovas Präsident Mircea Snegur schloß im Juli 1992 ein Friedensabkommen mit dem russischen Präsidenten Jelzin. Die Spaltung Moldovas dauert seitdem an. Frieden herrscht nicht, nur Waffenstillstand. Tighina-Bender und seine 130.000 Einwohner stehen seit mehr als zwei Jahren unter der Aufsicht einer „Trilateralen Friedenstruppe“ aus russischen Soldaten, transnistrischen Gardisten und moldovanischer Polizei.

Das Leben in der Stadt ist leblos. Im Zentrum sticht allzuviel Sauberkeit hervor. Rasen, Beete sind zu gepflegt, vor Denkmälern liegen zu viel frische Blumen – als müsse ein Schein aufrechterhalten werden. Es gibt keine bunten Tafeln mit Werbung, nur gepflegte, graue, manchmal zerschossene Fassaden. Im zentralen Park steht ein Lenin in Gold, blankgeputzt. Die Menschen hasten mit starren Blicken durch die Straßen. Wohin? Fast niemand hat Arbeit.

Wovon leben die Leute hier, wenn sie keine Arbeit mehr haben? „Spekulieren“, antwortet ein Mann auf der Straße: drüben bei den Moldovanern einkaufen und es hier teurer verkaufen. Er selbst war früher Schlosser und „spekuliert“ jetzt auch, mit Lebensmitteln, Zigaretten, Schnaps vor allem. Der Mann ist wortkarg und mißtrauisch, wie die meisten Menschen hier. Seine Meinung zu dem herrschenden Regime äußert er mit einem abfälligen Zucken in den Mundwinkeln. Er rät dem ausländischen Besucher, sich lieber nicht auffällig zu benehmen. „Die transnistrischen Garden haben eine Spionomanie. Wenn die Sie einmal verhaften, kommen Sie nicht so schnell wieder weg.“ Nur über die kalten Wohnungen, fehlendes Warmwasser, die Rationierung des Brotes, klagt er ausführlich. Bis auf Fischkonserven, Graupen, Farbfernseher sind die Geschäfte leer. Nur gegen Vorlage des lokalen Personalausweises darf eingekauft werden, Lebensmittel außerdem nur auf Marken.

Im Geschäft für die Veteranen hängt zusätzlich kostbares graues Fleisch am Haken. Die Kriegsveteranen sitzen da mit halb hochmütigen, halb verbitterten Mienen, sie warten und flüstern, ordensgeschmückt. Sie haben im Großen Vaterländischen Krieg gegen die Hitlerfaschisten gekämpft. Und nun? Wegen ihrer Privilegien, die ihnen nichts mehr nützen, sind sie überall unbeliebt. Die Rente ist knapp, das graue Fleisch teuer. Ihre Orden wirken wie ein Schild gegen die Splitter zerbrechender Illusionen. Wenigstens haben sie es hier wärmer als zu Hause.

Draußen fahren Militärlastwagen durch die Straßen. Die Stadt ist in Einflußzonen geteilt: Einen Teil kontrollieren die transnistrischen Garden, einen anderen russische Truppen, einen dritten die moldovanische Polizei. Es gibt keine „Grenzen“, nur Sperren und Stacheldraht. Auf dem Weg zur Polizeikommandantur muß der Besucher durch einen löchrigen Stacheldrahtzaun kriechen. Das Terrain ist gegen Angriffe notdürftig abgesperrt. Die Farbe an den Wänden im Kommandanturgebäude blättert ab. Ein Soldat schläft auf einem Stuhl, das Maschinengewehr im Arm.

Kommandant Prudnikow, ein leutseliger Russe aus Kasachstan, der seit zwanzig Jahren in Moldova lebt, erzählt mit dröhnender Stimme: „Es gibt keinerlei Ordnung mehr in der Stadt. Wir haben in der letzten Zeit hunderte Kriminelle aufgegriffen, meist Einbrecher, wegen Raubes oder illegalen Waffenbesitzes. Die transnistrische Garde hat unsere Notrufnummer auf ihre Zentrale umgestellt, aber um Notrufe kümmert sie sich nicht. Wir können in ihrer Zone nichts machen. So haben die Kriminellen meistens nichts zu fürchten.“ Er schaut grübelnd, zweifelnd aus dem Fenster. Als wolle er sagen: Ich bin hier auf verlorenem Posten.

Nach langen Augenblicken geht ein Ruck durch seine Gestalt. Er ist ja schließlich Soldat. Aus seiner Brieftasche kramt er einen zerknitterten Tausend-Rubel-Schein und wirft ihn dem Besucher lächelnd hin. „Als Andenken. Ist ungefähr ein Glas Wasser wert.“

Die abgenutzten, ungeheizten Trolleybusse fahren noch über den Fluß, in die „Hauptstadt“ Transnistriens, Tiraspol. Um die Brücke kämpften vor zweieinhalb Jahren Separatisten und Regierungstreue. Die Menschen im Bus starren reglos aus dem Fenster, die Kragen hochgeschlagen. Wenn die Schaffnerin kassiert, flüstert sie nur. Auf der Brücke patrouillieren transnistrische Gardisten, halten Wagen an, winken zur Weiterfahrt, mit versteinerten Gesichtern. Die Dörfer auf dem Weg liegen da wie ausgestorben im bleiernen Zwielicht. In den Häuschen muß es kalt sein. Kein Rauch steigt aus Schornsteinen auf. Aus der Ferne verkünden Neubaublocks traurig irgendeinen vergangenen Triumph.

Im Zentrum von Tiraspol steht auf einem monumentalen Platz das monumentale Gebäude des Obersten Sowjets. Weithin sichtbar weht über ihm die rotgrünrote Fahne. Vor dem Gebäude ragt eine Stele empor, darauf ein marmorner Lenin in vorwärtsstürmender Position. Vor dem Platz in der Straßenmitte steht reglos das Wappen der Republik, ein großer roter Stern mit Hammer und Sichel und Kornähren. Transnistrien ist das größte und authentischste Kommunismus-Museum Europas.

„Sie denken sicher, daß wir wegen der vielen Lenindenkmäler und den roten Sternen Kommunismus haben“, sagt Anna Wolkowa, die stellvertretende Vorsitzende des Obersten Sowjets. „Aber das stimmt nicht. Die Denkmäler stehen hier noch, weil wir nicht zu den Leuten gehören wollen, die Denkmäler stürzen und die ganze Vergangenheit ausradieren.“ Wie das politische System heißt, welches hier herrscht, will Anna Wolkowa trotzdem nicht sagen. „Unsere Ökonomie ist gemischt, halb staatlich, halb privat“, sagt sie ausweichend.

Anna Wolkowa wiederholt alle Phrasen, die auch Transnistriens Präsident Igor Smirnov in Interviews beständig zum Besten gibt, als hätte der Oberste Sowjet die Richtlinien für Antworten beschlossen: In Transnistrien sind 39 Prozent ethnische Rumänen, 26 Prozent Ukrainer, 23 Prozent Russen, der Rest andere Minderheiten. Anna Wolkowa spricht von einer vorbildlichen Minderheitenpolitik. Daß in den Behörden fast keine ethnischen Rumänen arbeiten – Lüge! Daß während des Bürgerkrieges auf der Straße wahllos Einwohner verhaftet wurden, weil sie rumänisch sprachen – Propaganda! Wahlen ohne Gegenkandidaten, an denen die rumänischsprachige Landbevölkerung nicht teilnahm, weil in ihren Dörfern keine Wahllokale eingerichtet wurden – das bezeichnet Anna Wolkowa als freie, demokratische Wahlen.

Zumindest gibt Anna Wolkowa zu, daß die wirtschaftliche Situation katastrophal und die Popularität des Regimes gesunken ist. Die Schuld schiebt sie auf das Ausland. Transnistrien bekomme als nicht anerkannter Staat keine Kredite. Aufgeben wollen die Machthaber nicht freiwillig, so scheint es. Die Regierung in Moldova hat Transnistrien eine weitgehende administrative, politische und kulturelle Autonomie angeboten, derzufolge nur noch wenige Institutionen, etwa Armee und Sicherheitskräfte, unter nationaler Kontrolle stehen würden. Anna Wolkowa lehnt das Autonomiestatut ab. In Tiraspol wird eine Konföderation verlangt, eigenes Geld, eine eigene Armee, ordentliche Grenzen – und damit praktisch die staatliche Anerkennung.

Nur beim Telefonieren herrscht Kommunismus. Es ist innerhalb der 185.000-Einwohner-Stadt umsonst, weil zuviele Automaten mutwillig zertrümmert wurden. Der Rest ist Misere: Jetzt, im Winter, wird kaum noch geheizt, der Strom vormittags und nachmittags für mehrere Stunden abgestellt. Hemmungslos lassen die Machthaber „Kupons“ drucken, die transnistrische „Währung“. Wer noch beim Staat arbeitet, erhält im Monat einen Lohn von sechs bis zehn Dollar.

Wechselstuben in Kellern, ein paar Buden an Straßenecken, ein paar Tische mit Lizenzzigaretten, gefälschtem Wodka und Kognak, Bier, Kleidern – mehr an Marktwirtschaft gibt es nicht. Geschäfte, Restaurants und Cafés sind fast ausnahmslos geschlossen. Zwei Zeitungen erscheinen, beide in russischer Sprache, die offizielle Dnjestrsche Wahrheit und der Soldat des Vaterlandes, die Zeitung der 14. Armee. Ansonsten: Revolverblätter – Verbrechen, nackte Frauen in schlechtem Druck.

Im Straßenbild dominieren die Uniformen der transnistrischen Garde, russische Soldaten, Militärlastwagen. Auffällig viele neue Chevrolets fahren umher, auch der eine oder andere Mercedes. Manchmal sitzen Uniformierte darin. In der winzigen Bar des Hotels „Drushba“ (Freundschaft) hängt ein Rambo-Poster neben einer transnistrischen Fahne, im Fernsehen läuft MTV. Gewalt, ein bißchen Patriotismus, ein bißchen Unterhaltung. In der Hotelkantine servieren Küchenfrauen zerkochtes Essen in schlecht gewaschenem Geschirr.

Auf dem Marktplatz am Stadtrand bieten die „Täschler“ ihre Waren an. Sie heißen Täschler, weil sie vollbepackt mit Taschen zwischen türkischen Basaren und russischen Marktplätzen, zwischen Bahnhofsgedränge und Grenzenwillkür umherziehen. Sie kaufen und verkaufen Billigjeans und imitierte Lederjacken, iranisches Apfelschampoo und arabische Cola. Ihr halbes Leben und alle Gespräche drehen sich um Preisunterschiede. Da, wo es welche gibt, tauchen sie auf.

Eine rundliche Russin mit strähnigen, blondgefärbten Haaren packt ihre Waren in die Taschen ein. Heute regnet es zuviel, zu lange. Ihr Gesicht sieht müde und krank aus. Sie fährt regelmäßig nach Odessa, von dort aus mit dem Schiff nach Istanbul und verkauft dann ihre Sachen in Tiraspol. „Es gibt hier nichts Gutes“, sagt sie gleichgültig. Und um Politik kümmere sie sich nicht.

Wie sie denken die meisten. „Grenzenloses Chaos“, kommentiert ein russischer Student die Situation, und in seinen Mundwinkeln liegt grenzenlose Bitterkeit. Er erzählt von Korruption und Willkür, von ständigen Einbrüchen, Straßenraub und nächtlichen Schießereien, davon, daß sich nach Einbruch der Dunkelheit kaum noch jemand auf die Straße wagt, daß die Fabriken jede zweite Woche geschlossen werden und daß fast niemand mehr arbeitet. Vor den offiziell als „faschistische Rumänen“ titulierten Herrschern auf der anderen Seite des Dnjestr, in Moldova, fürchtet er sich nicht. Nur vor einer Vereinigung mit Rumänien hätte er Angst.

Die Menschen verfallen in Apathie. Und sie überleben. Transnistrien zerfällt. Die Macht klammert sich nur noch an die Gewehrläufe. Der Kommandant der 14. Armee, General Alexander Lebed, findet längst nur noch derbe, harte Worte der Kritik für die korrupte Führung. Aber wahrscheinlich würde er den Separatisten auch ein weiteres Mal helfen, zu überleben. Was mag nach dem Kollaps kommen? Massenflucht? Der Krieg gegen das eigene Volk?

Der Krieg gegen die Rumänen jedenfalls geht weiter, zumindest auf psychologischer Ebene – unter dem Namen „Schriftkonflikt“. Es ist ein Streit um das kyrillische und das lateinische Alphabet. Letzteres ist in Transnistrien verboten – sofern damit Rumänisch geschrieben wird. Die transnistrischen Gesetze erlauben das Studium jeder Sprache, außer der rumänischen in lateinischer Schrift. Viele rumänischsprachige Eltern wollen jedoch, daß ihre Kinder das lateinische Alphabet lernen. Nicht nur, weil die heutige kyrillische Schrift die Feinheiten der rumänischen Sprache nicht wiedergeben kann – vor allem, meinen sie, seien die Kinder benachteiligt, wenn sie später auf moldovanische Universitäten gehen, wo die lateinische Schrift verwendet wird.

Bis zum September letzten Jahres duldeten die Behörden stillschweigend den Unterricht in lateinischer Schrift. Eine Entscheidung des Obersten Sowjets soll dem „ungesetzlichen Zustand“ seitdem ein Ende machen. Viele Eltern widersetzten sich, organisierten Protestkundgebungen, besetzten Schulen, blockierten Straßen und Eisenbahnen und verhandelten schließlich mit einem Komitee des Obersten Sowjets.

An diesem Tag sind die Eltern, mit ihren Kindern von Tighina- Bender nach Tiraspol marschiert. Nun warten sie vor dem Gebäude des Obersten Sowjets. Der Platz ist voll mit martialisch aussehenden Soldaten in schwarzen Uniformen. Sie haben die Demonstranten eingekreist, und die stehen mit dem Rücken zu den Häuserwänden – Frauen, Kinder, wenige Männer, ein paar hundert insgesamt.Im Streit um die Alphabete lösten die Machthaber Schulen auf, bezahlten Lehrkräfte nicht mehr, lehnten ein Angebot der Regierung in Moldova zum weiteren Unterhalt der betroffenen Schulen ab. Der Konflikt ist bitter, und er kommt gelegen, denn er lenkt ab von der wirtschaftlichen Katastrophe. Die Regierung hofft wohl, mit Unnachgiebigkeit die Fronten zu verhärten und so ein wenig von der Unterstützung für ihr Regime zurückzugewinnen, die auch auf Seiten der Russen längst abgebröckelt ist.

Die Eltern und Kinder warten, umzingelt von den Soldaten. Eine Abordnung verhandelt zum wiederholten Male mit einer Kommission des Obersten Sowjets. Sie wird auch an diesem Tag erfolglos zurückkehren. Einige alte russische Frauen stehen vor den Soldaten und schreien erbost zu den Demonstranten herüber: „Faschisten seid ihr! Ihr wollt lateinische Schrift, aber ihr eßt unser Brot!“ Die Soldaten ziehen sie weg, beruhigen sie, machen dabei hämische Bemerkungen über die Demonstranten. Die munkeln, diese alten Frauen würden für ein Entgelt, mit dem sie ihre geringe Rente aufbessern, als Störer hergeschickt. Sie sollen zu der „Frauenunion für den Schutz Transnistriens“ gehören, deren Mitglieder – hauptsächlich alte Frauen – schon des öfteren die betroffenen Schulen blockiert haben.

„Das ist hier schlimmer als zu Sowjetzeiten“, sagt ein Mann aus Tighina-Bender, der zu den Demonstrierenden gehört und seinen Namen lieber nicht nennen möchte. Seine Kinder schickt er überhaupt nicht mehr zur Schule, sondern unterrichtet sie zu Hause selber. „So werden hier die elementarsten Menschenrechte verletzt“, sagt er. Er schimpft auf die russische Kultur, auf ihre Zurückgebliebenheit. „Damit können wir doch nirgendwo in der Welt etwas anfangen, außer in Rußland! Aber wir gehören nicht nach Rußland, sondern nach Europa!“

Wie es weitergehen soll mit seinen Kindern – er weiß es nicht. Seine Arbeit als Zahnarzt hat der Mann verloren. Wie die meisten klagt auch er ausführlich über die Rationierung der Lebensmittel. „Seit November gibt es nur noch ein Brot pro Tag und erwachsener Person. Manchmal fahre ich zu meiner Schwester aufs Land und bringe Essen für die Familie mit. Meine Frau bekommt als Kindergärtnerin einen Lohn, der gerade für Milch und Brot reicht. Wenn es das überhaupt gibt.“ Er würde wegziehen aus Tighina-Bender, wenn er in Moldova eine Arbeit bekommen würde und eine Wohnung – wenn. Der Mann weist auf das transnistrische Wappen mit dem roten Stern in der Straßenmitte: „Rote Sterne, aber kein Brot“, ruft er bitter aus. „Schreiben Sie das. Und daß hier eine Bande von Kriminellen an der Macht ist!“

Anna Wolkowa ist jetzt die Leiterin der Kommission, welche mit den Eltern verhandelt. Sie ist von keinem dieser Argumente zu überzeugen: Die Rumänen hätten jahrhundertelang in kyrillischer Schrift geschrieben, meint sie. Daß das heutige kyrillische Alphabet die Feinheiten des Rumänischen nicht wiedergeben könne, stimme nicht. Im übrigen hätten sich die allermeisten Eltern für einen Unterricht in Kyrillisch ausgesprochen – sonst hätten ja wohl viel mehr demonstriert. Und so seien die demonstrierenden Eltern eben nur eine winzige Minderheit.

Auf den Gängen des Obersten Sowjets ist es eisig kalt. Zement, Holz, Pappe liegen herum, als hätten Arbeiter eine Baustelle fluchtartig verlassen. Der Umbau in den oberen Etagen ist bis auf weiteres aufgeschoben. Nur unten, in der Eingangshalle, glänzt der gebohnerte Marmor, und die Blumen vor der rotgrünroten Fahne und dem Wappen sind ganz frisch. Ein Mitarbeiter der Presseabteilung, ein freundlicher junger Mann, begleitet den Besucher hinaus. Er schwärmt von Deutschland und von Schweden, von dem Reichtum der westeuropäischen Länder. „Ihr seid dem Kommunismus so nahe in eurem Land“, meint er. „Wir sind weit weg davon, so weit weg, wie es nur geht.“