Ein Mann der sanften Resignation

Der russische Menschenrechtsbeauftragte Sergej Kowaljow besucht Bonn – aber er rechnet gar nicht damit, daß der Westen den Weg Rußlands in den Abgrund noch aufhalten kann  ■ Aus Bonn Sabine Herre

Als der Bürgerrechtler seine Rede beendet hatte, herrschte Schweigen. Nicht etwa weil die dreihundert Gäste der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ so beeindruckt von den Worten Sergej Kowaljows waren, sondern weil sie nicht gemerkt hatten, daß er zum Ende gekommen war. Da war kein lautstarker Appell an den Westen, da war nur die sanft vorgetragene Feststellung, daß man in Rußland auf die Frage danach, „warum etwas passiert“, in der Regel keine Antwort erhält. Es passiert eben. Auch ein Krieg passiert.

Das deutsche Publikum hatte es nicht leicht mit dem Russen. Denn während es eine detaillierte und präzise Faktenanalyse einforderte, zeichnete Kowaljow Bilder der russischen Gesellschaft, die in Prägnanz und Totalität den Krieg in Tschetschenien nur als kleinen Abschnitt der großen russischen Tragödie erscheinen ließen. Kowaljows Thema ist „Rußland und seine Machthaber“, an ihnen arbeitet er sich ab, sein Urteil über sie wird um so schärfer, je länger der Krieg dauert. Jelzin und seine Mannschaft vergleicht Kowaljow mit den sowjetischen Bürokraten in der Endphase des realsozialistischen Systems. Marktwirtschaft und Kapitalismus lösten als Ideologie den Kommunismus ab, Rußlands Bevölkerung würde der neuen Ideologie ebenso zynisch und distanziert gegenüberstehen wie der alten.

Kowaljows Blick in die Zukunft ist düster. Er hat keine Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges. Chaos oder Autoritarismus – das sind seine Alternativen. Eine positive Variante bietet er nicht an. Für Kowaljow ist Rußland das „größte vorstellbare Problem dieser Welt“. Kein Problem könne gelöst werden, wenn nicht zuvor das russische gelöst worden sei. Dem Lande und damit der ganzen Welt drohe der „GAU“ – und dies nicht allein wegen der AKW-Ruinen.

Kowaljow, der immer wieder als der „Sacharow von Grosny“ bezeichnet wird, spricht die Sprache des verstorbenen Freundes. „Lüge und Gewalt gehen in Tschetschenien Hand in Hand, die Lüge erzeugt Gewalt und Gewalt erzeugt Lügen.“ Der Krieg hält alle gefangen, die russische Führung und das tschetschenische Volk: „Das Volk kann sich irren, es kann falschen Idealen folgen, aber man kann keinen Krieg gegen das Volk führen.“ Wenn Kowaljow über die tschetschenische Seite spricht, klingt dann jedoch zum erstenmal auch etwas Hoffnung auf. Dudajew hätte das Zeug zu einem Diktator nicht.

Kowaljow spricht eine Stunde lang. Seine Stimme ist leise, immer wieder muß er die Anfänge seiner Sätze suchen. Der Tag in Bonn hat ihn müde gemacht, auch an Bonn hat er sich abgearbeitet. Ein Termin löst den nächsten ab, doch die Ergebnisse, die die Presseagenturen danach verbreiten, überraschen keinen. Sie hätten auch schon vor dem Besuch geschrieben werden können. Vielleicht ist der Bürgerrechtler ja zu diplomatisch, nicht weil er es nicht anders könnte, sondern weil er gar nicht hofft, hier etwas bewegen zu können.

Was er wirklich denkt, versucht er statt dessen dem Publikum bei der „Deutschen Gesellschaft“ deutlich zu machen. Deshalb trägt er ihm seine Vorstellungen von Bürgergesellschaft vor. Das „westliche Modell“ hält er für gut, weil dort die „Gesellschaft Druck auf ihre Regierung“ ausübt. Die Regierung aber – er meint die deutsche, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt – sei in ihren Reaktionen „zu lasch“. Die Russen seien nicht gewöhnt an höflichen Sprachgebrauch – weil sie „erlesen höflich“ war, hätte auch die nach Tschetschenien entsandte OSZE- Delegation die russische Führung nicht dazu bewegen können, ihr ein Treffen mit Dudajew zu ermöglichen.

Wie also sollte der Westen laut Kowaljow mit Rußland umgehen? Zuerst einmal muß er lernen, auf die Aussage: „Das ist unmöglich“ mit der Frage: „Warum?“ zu antworten. Auch wenn er darauf keine Antwort erhält.