Sinnentaumel auf Rädern

Die Millionenstadt Hangzhou an der chinesischen Ostküste: Schmeckt wie Tee, klingt wie Fahrrad und sieht aus wie früher. Wenn alle ihr Fahrrad abstellen würden, käme niemand zu Fuß durch  ■ Von Claudia Ingenhoven

In Schanghai war ich auch. Ja, auch im Peace-Hotel. Ich weiß, daß Mario Vargas Llosa kürzlich darüber geschrieben hat. Es ist wirklich ein schönes Hotel – allein der Blick auf den Hafen. Und diese luxuriösen Badezimmer mit den vielen Schächtelchen. Sogar Waschpulver liegt bereit. Nur eins fehlt: chinesischer Tee. Im Peace-Hotel wird die häßliche englische Beutelmischung angeboten.

Zurück nach Hangzhou, in die Hauptstadt der im Süden angrenzenden Provinz Zhejiang. Hier bin ich überhaupt auf den Geschmack gekommen. Kein Hotelzimmer ohne Deckeltasse, heißes Wasser und grünen Tee. Auch in Hangzhou gibt es mittlerweile viele Ausländer. Über einem Hoteleingang hängt ein rotes Transparent. Früher wurden so die Kader aus den sozialistischen Bruderländern begrüßt. Heute steht da: „Ein herzliches Willkommen den deutschen Unternehmern!“ Aber deshalb wird doch nicht gleich die Teekultur abgeschafft. Wo immer wir hinkommen, ob zum Treffen mit Journalistenkollegen, mit Bauern oder dem Bürgermeister – erst mal: Tassen, Teeblätter und Thermoskanne auf den Tisch. Dann lautes Schlürfen. Und Wasser nachschenken. Denn der erste Aufguß ist bitter, besonders für die, die sonst Zucker nehmen. Gesüßten Tee gibt es nur zu einer entscheidenden Gelegenheit: wenn ein Mann sich bei den Eltern seiner Freundin vorstellt. Akzeptieren sie ihn als Bräutigam, greifen die zukünftigen Schwiegereltern zur Zuckerdose. Wenn nicht, muß er sich etwas einfallen lassen. Vielleicht hat er seiner Freundin noch keine Nähmaschine geschenkt.

In der Umgebung von Hangzhou wächst der vielgerühmte Drachenbrunnentee, Longjin- Cha. Zweimal im Jahr wird er gepflückt, in Handarbeit. Maschinen schaden dem Aroma. Die Frühjahrsernte ist teuer, für die meisten Chinesen unerschwinglich. Der größte Teil wird denn auch nach Hongkong, Taiwan und Japan exportiert. Ungefähr 200 Mark kostet ein Kilo im Frühjahr, im Herbst, nach der zweiten Ernte, nur noch 20 Mark. Wilde Teesträucher werden baumhoch – im Nationalen Teemuseum in Hangzhou sind ganze Wälder abgebildet –, aber zum Ernten ist das handliche Buschformat, das heute kultiviert wird, ergiebiger.

Hangzhou schmeckt nach Tee und klingt nach Fahrrad. Wer sich je hat mittreiben lassen im klingelnden Fahrradstrom um den Westsee, wird mir zustimmen. Und wer nach Hangzhou kommt, sollte es ausprobieren. Einige Hotels vermieten schöne schlichte Räder, ohne modischen Schnickschnack. Leider auch ohne Licht. Dafür mit Schloß. Immer abschließen sollen wir die Räder und nur auf den markierten Parkplätzen abstellen. Die sind meist da, wo schon zig andere eng nebeneinanderstehen. Wenn alle ihr Fahrrad irgendwo abstellen würden, käme niemand mehr zu Fuß durch die Stadt.

Von vier Straßenspuren sind die jeweils äußeren beiden für Radfahrer vorgesehen. Zur Rush-hour drängeln sich mindestens fünf nebeneinander und Tausende fahren voran. Ein Bild wie beim Marathonlauf. Wer überholt, schert einfach aus, ohne sich umzusehen. Nach-vorne-Fahren ist das Prinzip, aufpassen müssen die Nachfolgenden. Mit lebhaftem Geklingel geht das vonstatten, aber ganz friedlich. Auch dann noch, wenn ein Pärchen unbedingt an einem Engpaß vor einer Brücke stehenbleiben muß, um mal eben mittels Handy zu telefonieren. Es wird schweigend umfahren. Autofahrer hupen, aber auch ihr Hupen scheint weniger das aggressive „Platz da!“ zu bedeuten als vielmehr: „Paß auf, ich bin hinter dir!“

Mehr Autos kann die Stadt nicht verkraften, wenn sie nicht im Dauerstau und Gestank untergehen will wie Schanghai. Nur scheint sich das niemand in aller Konsequenz klarzumachen. Zehntausend neue Autos werden Jahr für Jahr in Hangzhou zugelassen, die Nachfrage übersteigt das Angebot. Unsere Bewunderung für die 1,3 Millionen Fahrräder, so viele, wie die Stadt Einwohner zählt, wird aufgenommen wie ein verunglücktes Kompliment und mit dünnem Lächeln quittiert.

Schmeckt wie Tee, klingt wie Fahrrad und sieht aus wie früher. Natürlich ist Hangzhou eine moderne Großstadt mit Kaufhäusern, Fußgängerüberführungen und Baustellen. Aber allein, wie gebaut wird, zeigt, daß das chinesische Handwerk noch nicht überrollt wurde von westlicher Hochtechnologie. Ungefähr 100 Männer arbeiten auf einem Gerüst aus Bambusstäben, und zwar so konzentriert und so zügig, daß die gerade begonnene Brücke mittlerweile wahrscheinlich schon fertig ist. Anders als mit diesem enormen Einsatz menschlicher Arbeitskraft ist das chinesische Wirtschaftswunder auch nicht zu erklären. Dabei sind die Arbeitsbedingungen oft mörderisch. Die Stadt Schanghai meldet offiziell 422 tödliche Arbeitsunfälle innerhalb eines Dreivierteljahres, die Hälfte davon auf Baustellen.

Auch auf der Fußgängerbrücke sieht es aus wie früher. Der mittlere Streifen ist Rädern und Handkarren vorbehalten. Ein Mann zieht im Wagen seine gebrechliche Frau hinter sich her, ihr Haar ist nach alter Sitte zum Zopf geflochten. Am Rand verkauft jemand Zuckerrohr und hundertjährige Eier, blaugrün verfärbte Soleier, die so schmecken, wie sie heißen. Ein anderer kann aus der Hand lesen. Obwohl die Wirtschaft boomt, macht die Stadt doch keinen hektischen Eindruck, an vielen Stellen wirkt sie eher beschaulich. Jüngeren wie Älteren scheint ein Schwätzchen mit ausländischen Besuchern zu gefallen, nicht zuletzt weil sie dabei ihre englischen oder sogar deutschen Sprachkenntnisse trainieren können. Wenn Reisende vor 20 Jahren von Begegnungen mit verschlossenen, abweisenden Chinesen berichtet haben, so ist heute eher das Gegenteil der Fall. Es sei denn, es geht um Menschenrechte. Da verstummen selbst die, die vorher über intime Erlebnisse gesprochen haben.

Wie riecht Hangzhou? Die ekligen Ecken sind schon von weitem zu merken, und den Geruch wird man auch nicht so schnell wieder los, den Geruch öffentlicher Toiletten. Toiletten sind überhaupt ein Kapitel für sich, sie geben dem Tag einen eigenen Rhythmus. „Wenn ich jetzt noch mal gehe, muß ich nachher im Pharmazie- Museum nicht, und den Tee lasse ich am besten schon mal stehen.“ (Das Pharmazie-Museum ist sehenswert. Es gehört zu einer Fabrik, in der seit 120 Jahren aus Tier- und Pflanzenextrakten Medikamente hergestellt werden.) Aber weil mir Hangzhou so gut gefallen hat, berichte ich lieber vom Wohlgeruch auf dem allabendlichen Markt. Sojasoße dominiert. Ob ein kleiner Stand mit Tofubällchen oder ein großer Tisch mit Hühnerkrallen, Fisch und Krabben – Sojasoße eignet sich für alles, es kommt nur auf ihre Zusammensetzung an. Warme Duftschwaden ziehen durch die Straße und lassen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Lebensmittelnachschub steht schon in Käfigen und Wasserbecken bereit.

Am Straßenrand bieten Handwerker ihre Fähigkeiten an. Einer repariert Schirme, ein anderer flickt Taschen. Weggeworfen wird hier nichts. Eine Wonne für Touristen sind die Verkaufstische in der Straßenmitte. Eine endlose Reihe mit alten Schlössern und silberverzierten Lupen, Pinseln in jeder Form und Qualität, Seidenkrawatten und Blusen aus lokaler Produktion bis hin zu elektronischen Feuerzeugen, die beim Öffnen quäkend „Der Osten ist rot“ von sich geben, die Hymne der Kulturrevolution. Handeln ist üblich. Chinesische Käufer akzeptieren höchstens die Hälfte des genannten Preises. Bei Verständigungsschwierigkeiten wird einfach ein Taschenrechner hin- und hergereicht.

Hangzhou fühlt sich feucht an. Jedenfalls im Herbst. Der Sommer soll unerträglich heiß gewesen sein, jetzt ist das Klima mit 15 Grad mild. Aber es regnet, und wenn es nicht regnet, ist es diesig. Am Schirmständer vor dem Kaufhaus hat sich eine kleine Schlange gebildet, Schirme werden genauso sorgfältig angeschlossen wie Fahrräder. Touristen, die mit dem Boot über den Westsee fahren, können das fünf Kilometer entfernte Ufer nicht sehen. Im Sommer gleiten sie durch ein Meer farbiger Lotusblüten, im Herbst sind davon nur noch bizarr verschrumpelte braune Rosetten übrig. Der Westsee ist trotzdem eine Attraktion, nicht nur für in- und ausländische Touristen. Auch für die beiden Verkäuferinnen in Leggings und Minirock, die Arm in Arm die Uferpromenade entlangspazieren und ihren freien Tag zu genießen scheinen. Sie halten kichernd ihr Gesicht in die Luft, als verschönere der Nebel ihre Haut. Oder die alten Männer, die rauchend und rotzend (auch ein typisches Geräusch!) auf einer Bank sitzen. Oder das Liebespaar, das sich im Teehaus anhimmelt. Ein Denkmal erinnert an Qiu Jin, die Vorkämpferin für Frauenrechte, die Mann und Kinder verließ, um eine Mädchenschule zu gründen und die erste chinesische Frauenzeitung herauszugeben. 1907 wurde sie nach einem mißglückten Aufstand gegen die Monarchie hingerichtet. Die Gartenanlagen am See sind liebevol bepflanzt und gepflegt, deshalb versammeln sich hier auch die meist älteren Tai-Chi-Anhänger. Sie lassen sich nicht stören bei ihren ruhigen, fließenden Bewegungsübungen, selbst wenn sie von neugierigen Zuschauern fotografiert werden.

Auch Mao kam gern an den Westsee, monatelang. Wer beharrlich genug das Personal bearbeitet, kann im staatlichen Gästehaus besichtigen, wo er residiert hat. Plastiküberzieher für die Schuhe sind obligatorisch. Schließlich hat Mao in diesen heiligen Hallen die erste chinesische Verfassung entworfen.

Wer dem Gefühl von Nebel auf der Haut nichts abgewinnen kann, dem möchte ich noch ein anderes, elektrisierendes Hangzhou-Gefühl nahelegen: Akupunktur im Krankenhaus für traditionelle chinesische Medizin. Eine Behandlung kostet ungefähr 10 Mark, das tut nicht weh, ist aber intensiv zu spüren. Wohltuend.