„Die Schweiz ist eine Armee“

Über eine neue Wehrverfassung haben sich die Militärs eine Blankovollmacht für Einsätze im Innern verschafft – statt abzurüsten  ■ Aus Bern Thomas Gass

Drogenkrieg: Die Armee will helfen!“ In 17 Zentimeter hohen Lettern rief das Schweizer Boulevardblatt Blick im vergangenen Sommer den Notstand aus. Zürichs offene Drogenszene, wo Gewalt und soziales Elend im Hitzesommer 1994 zu eskalieren drohten, steht für das Versagen schweizerischer Drogenpolitik. Und wo die Politik versagt, soll künftig die Armee eingreifen. So poltern Massenblätter, einflußreiche Populisten wie der Zürcher Nationalrat Christoph Blocher und übereifrige Militaristen derzeit im Einklang.

Es erstaunt deshalb nicht, daß das Schweizer Parlament kürzlich eine Totalrevision des „Militärgesetzes“ – die eigentliche „Wehrverfassung“ – verabschiedete, die den Armee-Einsatz im Innern rechtlich verankert. Nun allerdings von einer Notstandsgesetzgebung zu sprechen, wäre verfehlt. Vielmehr erteilte die bürgerliche Mehrheit der Schweizer Armee einen in zivile Bereiche hineinreichenden Auftrag, um die Institution neu zu legitimieren.

Dies mit Grund: Im November des Jahres 1989 stimmten über eine Million Schweizer und Schweizerinnen, rund 36 Prozent der Stimmenden, einer Volksinitiative der „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ (GSoA) zur Abschaffung der Armee zu. Das Abstimmungsergebnis löste bei den Militärs Alarmstufe eins aus. Denn 72 Prozent der damals rund 600.000 Wehrdienstpflichtigen stimmten für die Abschaffung. Noch im Vorfeld der Abstimmung versprach der damals neu amtierende Verteidigungsminister Kaspar Villiger die größte Armeereform seit Bestehen des Bundesstaates. Zu Beginn der Neunziger erarbeitete die Regierung einen neuen Bericht zur Sicherheitspolitik und leitete daraus das neue „Armeeleitbild 95“ ab.

Die militärische Landesverteidigung sollte sich demnach gegen drei mögliche Bedrohungen wappnen: Der unberechenbare „Zerfallsprozeß der UdSSR“ berge für die Schweiz allerhand nukleare und militärische Gefahren. Die „Nationalitätenkonflikte“ auf dem Balkan drohten auf Mitteleuropa überzugreifen und würden auch für die Schweiz nicht zu bewältigende „Flüchtlingsströme“ auslösen. Und schließlich neue Risiken: die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, der religiöse Fundamentalismus, Terrorismus und das Organisierte Verbrechen. Diese Bedrohungen erforderten eine „Multifunktionalität“ der Schweizer Armee, befanden die Militärreformer. Die Armee müsse zu einem „wichtigen Instrument der Krisenbewältigung“ ausgebaut werden, präzisierte Kaspar Villiger. Nachdem die Schaffung von Schweizer Blauhelmtruppen beim Volk 1994 durchgefallen ist, beschränkt sich die militärische Friedensförderung auf Blaumützen- und Beobachtereinsätze im Rahmen von UNO- und OSZE- Missionen. Im Bereich der „allgemeinen Existenzsicherung“ jedoch erteilt das Militärgesetz der Armee eine Blankovollmacht für Einsätze zur Wahrung der „inneren Sicherheit“.

In den letzten 150 Jahren gab es insgesamt 76 Einsätze der Schweizer Armee – alle richteten sich gegen die eigene Bevölkerung. Als die Armee sich 1918 und 1932 gegen die streikende ArbeiterInnenschaft richtete, kostete dies Dutzende von Menschenleben. 1946 marschierten militärische Truppen gegen AtomkraftwerkgegnerInnen im Urserental, 1953 gegen Bauern im Wallis und 1968 gegen SeparatistInnen im Jura. „Ordnungsdienste“ dieser Art beruhten jeweils direkt auf der Bundesverfassung (Grundgesetz). Das Parlament hat den „Ordnungsdienst“ jetzt auch auf Gesetzesebene verankert.

Was noch schwerer wiegt, sind die ausufernden Einsatzmöglichkeiten des neu geschaffenen „Assistenzdienstes für zivile Behörden“ in „außerordentlichen Lagen“. Obschon die Regierung auf die dankenswerten Einsätze der Armee bei Umweltkatastrophen hinweist, hat sie bereits Kostproben gegeben, wie sie den „Assistenzdienst“ künftig vermehrt einzusetzen gedenkt. Im Frühling 1991 übte die Armee an der Grenze bei Schaffhausen den Einsatz gegen „illegale“ Einwanderer. Als ein Angestellter der türkischen Botschaft in Bern im Sommer 1993 in eine Menge demonstrierender Kurden schoß und einen Mann tödlich traf, übernahm die Armee die Bewachung der Botschaft. Als sich Clinton und Arafat in Genf trafen, riegelte die Armee das Konferenzzentrum ab. Und seit die Zürcher Stadtregierung sich anschickte, ausländische Drogendealer provisorisch in einen städtischen Schutzbunker zu verfrachten, ist die Armee für die Außenbewachung zuständig und befugt, bei Eindring- oder Ausbruchversuchen von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Kurzum: Wenn Migrations-, Drogen-, Asyl- und Sozialpolitik versagen, Polizei und Grenzwache überfordert sind oder Gefängnisse bersten, steht künftig die „militärische“ Lösung der Probleme an. Wie sagte doch ein hoher Militärbeamter kürzlich: „Die Armee ist vergleichbar mit der Temporärfirma Manpower.“

Kaspar Villiger, der Chef des Eidgenössischen Militärdepartements (EMD), preist die reformierte „Armee 95“ denn auch gern als schlanken und ranken Dienstleistungsbetrieb an. Von Abrüstung oder Entmilitarisierung jedoch kann keine Rede sein. „Armee 95“ reduziert die Dauer der Dienstpflicht um zehn Prozent und drückt so den Sollbestand von 600.000 auf 400.000 Soldaten. Den Truppenabbau jedoch kompensiert sie mit der Anschaffung von High-Tech-Waffensystemen. Die allgemeine Wehrpflicht bleibt bestehen, ein wirklicher ziviler Ersatzdienst ist nicht in Sicht. Rund 25.000 Zwanzigjährige rücken jährlich für 15 Wochen in die „Rekrutenschule“ ein. Etwa 7.000 lassen sich medizinisch oder psychiatrisch ausmustern, und nur etwa 250 verweigern und nehmen bis zu einem Jahr Gefängnis und in Einzelfällen einen Arbeitsdienst in Kauf. Bis zum 42. Lebensjahr muß jeder Schweizer alle zwei Jahre einen Wiederholungskurs von drei Wochen Dauer absolvieren. Von dieser spezifisch schweizerischen Ausprägung des Milizgedankens rückten die Reformer nicht ab. Das Massenheer von „Bürgersoldaten“ halte die Schweiz zu einer „Willensnation“ zusammen und fördere die nationalstaatliche Identität.

Das neue Militärgesetz enthält Dutzende von Artikeln, die diese enge Verflechtung und Verfilzung zwischen Armee und Gesellschaft absichern: Jeder Dienstpflichtige untersteht beispielsweise der „außerdienstlichen Schießpflicht“. Die Organisation der Schießübungen ist rund 3.700 privaten Schützenvereinen übertragen. Im letzten Jahr feuerten eine halbe Million Schützen – immer an Sonntagen übrigens – rund 50millionenmal ins Schwarze. Das Militärdepartement bezahlt die Munition. Die Sturmgewehre, Karabiner und Pistolen gehen nach Austritt aus der Armee ins persönliche Eigentum des ehemaligen Wehrmanns über. Denn man trenne sich nicht gern von etwas, neben dem man so lange gelegen habe, flunkerte ein Parlamentsabgeordneter. Mit dem Zwang zum außerdienstlichen Schießen und den 20 Millionen Franken, mit denen der Staat den privaten Schützenvereinen jährlich unter die Arme greift, sichert er sich nicht nur die Wehrhaftigkeit seiner Soldoaten, er hält sich auch politisch eine mächtige, armeefreundliche Lobby in der Bevölkerung. Denn immer wenn eine militärkritische Volksabstimmung ansteht, mobilisiert die Armee über die Schützenvereine ihre Klientel. Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee, schrieb die Regierung 1988. Daran ändert auch „Armee 95“ nichts.