Von Utopien und Anti-Utopien

Der Siegener Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger über die „digitale Revolution“ und das „Fernsehen 2000“

16Flimmern und RauschenSonnabend/Sonntag, 11./12. Februar 1995

Wer erinnert sich noch an das Jahr 1984? Es war das „Orwell- Jahr“, in dem sich nahezu jede größere bundesdeutsche Stadt bilanzierend mit Orwells Roman „1984“ beschäftigte, um zu dem erleichterten Fazit zu gelangen, daß es ja nun doch nicht so schlimm gekommen sei. Orwell habe sich geirrt, von einem globalen Überwachungsstaat, der sogar Sprache und Geschichte manipuliere, sei weit und breit nichts zu sehen. Mit anderen Worten: Es war das Jahr, in dem der populäre Mythos „1984“ seinen Kulminationspunkt erreichte – „1984“ war in aller Munde, eine Kenntnis des Textes gleichen Titels jedoch weder vorhanden noch notwendig, ja sogar hinderlich. Wer Orwells Roman kannte, wußte beispielsweise, daß sein Titel Zufall war (der Autor gelangte zu „1984“, indem er die letzten beiden Ziffern des Entstehungsjahres, 1948, umkehrte) und daß es sich bei dem Buch um eine gesellschaftskritische Anti-Utopie, nicht aber um Zukunftsprognostik handelte.

Einige clevere Zeitgenossen konterten den „1984“-Boom, indem sie die eine Anti-Utopie mit einer anderen konfrontierten, Aldous Huxleys „Brave New World“. Während bei Orwell der anti-utopische Zustand durch Unterdrückung erreicht wird, geschieht dies bei Huxley und anderen durch biochemisch evozierte Glückszustände. Die daraus abgeleitete Botschaft: Die wirkliche Bedrohung der Menschheit liege weniger in der offensichtlichen – und dadurch bekämpfbaren – Unterdrückung, sondern in der systematischen Besänftigung durch alle Arten von Drogen (vom Alkohol bis zum Fernsehen), die gesellschaftsgestaltende bzw. -verändernde Aktivitäten von vornherein verhindere.

Gleichzeitig war 1984 das Jahr der ersten Kabelpilotprojekte unter Beteiligung kommerzieller Programmanbieter und damit der Beginn der televisionären Neuzeit, die 1994 ihr zehnjähriges Jubiläum feierte. Angesichts der radikalen Veränderung der deutschen Fernsehlandschaft, die in der Zwischenzeit stattgefunden hat, und der unbestrittenen Rolle des Fernsehens als „Leitmedium“ im Medienzeitalter liegt es nahe, den „1984“-Diskurs in modifizierter Form wieder aufzugreifen. Glaubt man konservativer Kulturkritik, lagen sowohl Orwell als auch Huxley teilweise richtig und teilweise falsch: Auch wenn die von ihm beschriebenen Medientechnologien – von heute aus gesehen – vorsintflutlich waren, erkannte Orwell deren Bedeutung; auch wenn Huxley fälschlicherweise auf chemische Drogen setzte, hielt er zutreffenderweise die Pazifizierung für das effektivere Kontrollinstrument als die brutale Unterdrückung. Ist also aus Orwells berüchtigtem „Room 101“, in dem die schlimmsten Angstphantasien der Opfer Realität werden, das heimische Wohnzimmer geworden, in dem der Fernsehapparat unablässig glücklich machende Unterhaltung abstrahlt, die von willenlosen Opfern dankbar aufgenommen wird?

Brüchige Erfolgs- geschichten

Von interessierter Seite wird die Geschichte des privaten, d.h. kommerziellen Fernsehens in Deutschland gerne als bruchlose Erfolgs-Story dargestellt (wofür Helmut Thoma sogar in den USA einen „Emmy“ bekommen hat); dennoch ist es eine Geschichte, die auch einzelne Brüche und Mißerfolge aufweist, für die vor allem ein Faktor verantwortlich ist: die Fernsehzuschauer. Als renitent erwiesen sich die Zuschauer beispielsweise in den ersten Jahren der Verkabelung der Bundesrepublik: Zunächst wehrten sich viele Bürger vehement gegen eine „Zwangsverkabelung“. Selbst 1989 war noch weniger als die Hälfte der „anschließbaren“ Haushalte tatsächlich an das Kabelnetz angeschlossen (43,1 Prozent).

Die Anpassung an die neue Situation wurde den Zuschauern durch die kommerziellen Programmanbieter dadurch erleichtert, daß das „neue Fernsehen“ zunächst in hohem Maße auf vertraute Angebote baute: Insbesondere Sat.1 und später auch Pro 7 offerierten vor allem altvertraute Filme und wohlbekannte Serien, von „Lassie“ bis „Bonanza“, von „Schirm, Charme und Melone“ bis zu den „Straßen von San Francisco“. Im Laufe der Zeit ergänzte sich das Angebot von RTL, Sat.1 und anderen neuen Sendern um weitere altvertraute Programmsegmente: Volksmusik und Volkstheater, Fußball und Tennis und anderes mehr.

Bei neuen Sendungen sieht die Bilanz des Privatfernsehens gar nicht so anders aus als die des öffentlich-rechtlichen: Es gab einige spektakuläre Erfolge, viel Mittelmaß und zahlreiche spektakuläre Flops. Ein früher spektakulärer Erfolg war beispielsweise das „Glücksrad“ von Sat.1, das fast schon zu erfolgreich war – zum Leidwesen des Senders kamen in der monatlichen Hitliste der meistgesehenen Sat.1-Sendungen 1988 und 1989 fast nur „Glücksrad“-Folgen vor und kaum anderes. Andere Zuschauerhits folgten, bei allen Privatsendern: was für RTL etwa „Ein Schloß am Wörthersee“ und die „Traumhochzeit“ waren, stellten bei Sat.1 unter anderem „Schreinemakers live“ und der „Bergdoktor“ dar. An die Flops des Privatfernsehens denkt heute dagegen kaum noch jemand, nicht zuletzt weil sie binnen kürzester Zeit aus dem Programm genommen bzw. auf nächtlichen Sendeplätzen versteckt wurden. Um nur einige Beispiele aus neuerer Zeit zu nennen, wer kennt noch „Lindenau“ oder das „River Café“ (Pro 7), „AiRTL“ oder die aufwendige Koproduktion „Berlin Break“ (RTL)? Verglichen damit bewiesen öffentlich-rechtliche Sender wiederholt eine erstaunliche Langmut mit ihren Quoten- Flops, die um so eher als spektakuläre Desaster im Gedächtnis haften blieben – etwa das langsame Dahinsiechen von „Nase vorn“ (ZDF) oder das Drama der „Zweiten Heimat“ (ARD), einer verdienstvollen Produktion, die den ARD zur Hauptsendezeit die Einschaltquoten eines besseren Spartenkanals bescherte.

Die anti-utopische Perspektive bedarf also zumindest schon einer wichtigen Korrektur: Bei weitem nicht alles, was den Zuschauern als beste Unterhaltung angeboten wird, wird auch angenommen. Im Gegenteil: In der neuen Konkurrenzsituation, die die Auswahl zwischen vielen Angeboten erlaubt, verfahren Zuschauer offenbar hochgradig selektiv.

Wider- spenstige Zuschauer

Aus Zuschauersicht ist die deutsche Fernsehlandschaft des Jahres 1994 alles andere als ein anti-utopisches Szenarium, vordergründig betrachtet sogar das genaue Gegenteil. Weit über 20 Sender versorgen zumindest Kabel- und Satellitenhaushalte rund um die Uhr mit Angeboten. Zu fast jedem beliebigen Zeitpunkt können auf dem Bildschirm Game Shows und Nachrichten, Spielfilme und Serien aller Art, Musikvideos und Sportübertragungen betrachtet werden. Die individualisierte Gesellschaft, in der kollektive Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen immer mehr über Mitgliederschwund klagen und das Interesse an gesamtgesellschaftlichen Belangen immer mehr schwindet, hat offenbar das ihr angemessene Fernsehen erhalten.

Anscheinend wird immer mehr eine „hedonistische Utopie“ der Television Realität, d.h. jedes individuelle Lieblingsprogramm rund um die Uhr abrufbar. Aber auch die utopische Perspektive erweist sich als untauglich – die Fernsehzuschauer sehen sich bekanntlich kaum noch eine Sendung von Anfang bis Ende, statt dessen wird immer mehr von einem Kanal auf den anderen umgeschaltet, und die Aufmerksamkeit, die dem televisionären Schlaraffenland entgegengebracht wird, ist in der Regel nicht besonders groß. „Fernsehen“ ist in hohem Maße zur Sekundärtätigkeit geworden; man macht es, nicht aber ohne gleichzeitig anderen Tätigkeiten nachzugehen. Selbst die neuen Verheißungen des heranbrechenden Zeitalters des digitalen Fernsehens stoßen auf geringes Interesse: Laut den Ergebnissen einer im Oktober 1994 vorgestellten Untersuchung des Forsa-Instituts haben über 80 Prozent der Befragten kein Interesse an noch mehr Fernsehkanälen, von denen sich die überwältigende Mehrheit auch keine Verbesserung des Angebots verspricht.1

Die inflationäre Vermehrung des TV-Angebots hat unter anderem auch eine Bedeutungsinflation mit sich gebracht. Versteht man unter „Bedeutung“ das Resultat einer subjektiven Wertzuweisung, handelt es sich dabei im Grunde genommen um einen ganz einfachen und logischen Prozeß: Bedeutendes erlangt seine spezifische Qualität, nämlich bedeutsam zu sein, erst durch die Existenz des Nicht-Bedeutenden, die Kategorie „Bedeutung“ operiert über eine je spezifische Differenz. Geht es um das Fernsehangebot, sind es zwei mögliche Differenzen, über die „Bedeutung“ hergestellt werden kann.

Die erste ist die Differenz von „Fernsehen“ und alternativen Aktivitäten, die vor der Einführung des dualen Fernsehsystems lange Zeit eine zentrale Rolle spielte. Um als Bedeutungsgenerator wirksam werden zu können, benötigte dieser Differenztypus die Wirksamkeit dreier Faktoren: erstens die flächendeckende Präsenz von Fernsehgeräten; zweitens die prinzipielle Attraktivität des Fernsehens als (bis zur Markteinführung preiswerter Video-Recorder) einzigem heimischen AV-Medium; drittens die Knappheit des Programmangebots. Anders formuliert: So lange es nur wenige Fernsehsender gab, die von fast jedem Haushalt empfangen werden konnten (und nur wenige Haushalte einen Video-Recorder besaßen), hatte jede einzelne Sendung einen „Bedeutungsbonus“.

Die zweite Differenz ist die zwischen einzelnen Sendungen, also zwischen solchen, die dem „normalen“, dem alltäglichen Programm zugerechnet werden, und denen, die den Charakter eines besonderen Ereignisses haben. Sieht man davon ab, daß für kleinere Zuschauergruppen beispielsweise auch Dokumentarfilme, Talkshows, Gesundheitsmagazine oder regionale Sportsendungen ein Fernsehereignis sein können, gehören zu diesen Fernsehereignissen vor allem Live-Übertragungen von großen Sportveranstaltungen, einzelne Spielfilme und aufwendige fiktionale Mini-Serien.

Wenn beide Differenzen in der Vergangenheit zusammenkamen, war das Ergebnis der vielzitierte „Straßenfeger“ – die ganze Bundesrepublik sah zur gleichen Zeit fern, und zwar den gleichen Kanal, also die gleiche Sendung, wie etwa bei 17Flimmern und Rauschen

den Durbridge-Krimis der sechziger Jahre.

Die gleichzeitige Bildschirmpräsenz von „allem“, also auch allen nur denkbaren gemäß subjektiver Präferenzen mit Bedeutung geladenen Angeboten, wie sie für das Fernsehen der neunziger Jahre typisch ist, bedroht beide Typen der Differenz.

Der Bedeutungs- schwund

Die Verlaufsform dieses Prozesses kann jeder nachvollziehen, der sich an die Veränderung seiner Fernsehgewohnheiten nach dem Erwerb einer Satelliten-Empfangsanlage bzw. eines Kabelanschlusses erinnert: In den ersten Wochen findet eine enorme Vermehrung der Sehzeiten statt, es dominiert das Gefühl, jetzt endlich all das sehen zu können, wovon man schon immer geträumt hat. Danach nimmt das Interesse jedoch rasch wieder ab, die „hedonistische Utopie“ wird zur Dystopie – irgendwie wirkt alles doch erschreckend ähnlich, Desillusionierung setzt ein, das Interesse und eventuell sogar die Einschaltzeiten gehen zurück.

Es bleibt die bittere Erkenntnis: Wenn es nur noch „Höhepunkte“ gibt, gibt es überhaupt keine Höhepunkte mehr, sondern nur noch ein flaches Plateau. Das zudem noch abzusinken droht – die Beobachtung, daß jetzt jeder televisuelle Wunsch (fast) umgehend erfüllt wird, regt zu Zweifeln an, ob man das Fernsehen nicht vielleicht insgesamt überschätzt hat.

Ein vergleichbarer Prozeß läßt sich selbst in den Programmbereichen feststellen, wo das kommerzielle Fernsehen zunächst wirklich etwas „Besonderes“ bot. Es bediente sich dabei der gleichen Taktik, die sich vor Jahrzehnten im Konkurrenzkampf Kino versus Fernsehen bewährt hatte. Ebenso wie sich der Film damals gemüht hatte, mit Attraktionen wie Sex und Action aufzuwarten, die das Familienmedium Fernsehen nicht offerieren durfte, profilierten sich die neuen deutschen Privatsender in der Anfangszeit in hohem Maße über Programmangebote, die dem öffentlich- rechtlichen Fernsehen verschlossen waren (nicht zuletzt: Sex und Action). Aber die Inflation der Bedeutung macht auch vor derartigen Tabubereichen nicht halt: Während beispielsweise die ersten Sex-Filme und die ersten „Tutti Frutti“-Folgen noch auf gesteigertes Interesse hoffen konnten, ist heute die televisuelle Grundversorgung mit „Erotik“ weitgehend abgedeckt und derartige Angebote nur noch für kleinere Zielgruppen attraktiv.[...] Selbst die vor wenigen Jahren aus den USA importierten Programmsparten „Reality-TV“ und Bekenntnis- Talkshows unterliegen dieser Bedeutungsinflation. Egal, ob es um selbst erlebte Naturkatastrophen, Selbstmordversuche oder ungewöhnliche Sexualpraktiken geht, spätestens der fünfte entsprechende Bericht bzw. das fünfte TV-Bekenntnis entlockt den Zuschauern nur noch ein Gähnen. [...]

Die Indizien, die von einer „Ermüdung des Mediums“2 sprechen lassen (etwa die trotz enormer Angebotsvermehrung nicht wesentlich gestiegenen Einschaltzeiten und die nachlassende Aufmerksamkeit der Zuschauer, auf der anderen Seite die Beschleunigung der Bildfolgen), werden so erkenntlich als Symptome der Ermüdung der Zuschauer – gegen die sowohl viele Zuschauer als auch alle Sender energisch vorgehen: die Zuschauer durch die Komposition individueller Programm-Potpourris mit Hilfe der Fernbedienung, die Sender durch die Inszenierung immer neuer und immer mehr Programm-„Ereignisse“, die aber immer weniger „Ereignis“ sein können. Im Gegenteil: Je mehr Sender sich darum bemühen, „Ereignis-Fernsehen“ zu bieten, desto weniger ist Fernsehen insgesamt tatsächlich noch ereignisfähig.

Verlust der Ereignisse

Dahinter verbirgt sich ein Grundproblem des Mediums: Ein „Ereignis“ kann nur etwas sein, das einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit hat, einen Anfang und ein Ende. Zum „Ereignis“ gehört das unmittelbare – also gerade nicht das medial vermittelte – Erleben; insofern ist das Fernsehen überhaupt allenfalls eingeschränkt „ereignis- tauglich“. Lediglich in der Anfangszeit des Mediums lag eine etwas andere Situation vor, da die mediale Übermittlung an sich etwas Neues war: Die beispielsweise in der Programmgeschichtsschreibung hervorgehobene Bedeutung der Übertragung der Krönungszeremonie von Königin Elisabeth II (1953) dürfte nicht nur auf dem Interesse der bundesdeutschen Bevölkerung am britischen Königshaus beruhen, sondern in erheblichem Maße auch auf der Tatsache, daß hier das deutsche Fernsehen erstmals „live“ und in großem Umfang von etwas Bedeutendem berichtete.

Heute ist dagegen der alte Glanz matt geworden. Fernsehen ist Alltag, und je mehr Sender es gibt, um so schwieriger wird es, selbst televisuelle Einzigartigkeit zu behaupten. [...] Die Bemühungen aller Sender sind unübersehbar: Geht es etwa um Sportveranstaltungen, bietet das Fernsehen oft den weitaus besseren Blick als den, den die Zuschauer am Ort des Geschehens haben – allein, es fehlt die Stimmung, das tatsächliche Dabeisein.3 Bei fiktionalen Produktionen werden dagegen vor allem die hauseigenen PR-Abteilungen bemüht, die daraus ein „Ereignis“ machen sollen. Bisweilen läßt dabei schon die Formulierung erkennen, daß ihre Urheber insgeheim um die Vergeblichkeit ihres Tuns wissen: Wie sonst läßt sich erklären, daß Sat.1 seinen Freitagsfilm mit dem wahnwitzigen Etikett „Der Film-Film“ versehen hat?

Ausgerechnet der Programmbereich, in dem das Fernsehen in der Vergangenheit mit selbstinszenierten Ereignissen oft große Erfolge erzielt hat, gilt dagegen als aussterbende Sendeform – die große Samstagabendshow. Ihr Problem: Sie ist aufwendig und allen Erfahrungen nach für Wiederholungen ungeeignet.

Trotz aller Probleme und inflationärer Tendenzen: Es wird weiter ferngesehen, wenn auch vielleicht nicht so intensiv wie früher und vielleicht sogar etwas weniger. Im Oktober des Jahres 1992 wurde in Kabel- und Satellitenhaushalten von der GfK eine durchschnittliche Sehzeit von 181 Minuten ermittelt, im Oktober 1993 stieg sie auf 191 Minuten, im Oktober 1994 sank sie auf 186 Minuten: Insgesamt hat sich recht wenig verändert, möglicherweise deutet sich sogar eine leicht rückläufige Tendenz an.

Die größten Erfolge des neuen Fernsehens 1994 bestehen fast ausschließlich aus Sendungen, die immer schon zu den größten Quotenbringern gehört haben: Es sind vor allem Sportübertragungen, einige wenige Spielfilme und Spielshows sowie Nachrichtensendungen. Egal ob ARD, ZDF, RTL oder Sat.1, der Quotenbringer Nummer eins ist der Fußball, sei es in der Bundesliga, Europapokalen oder bei der Weltmeisterschaft.[...]

So sehr sich die deutsche Fernsehlandschaft auch verändert hat, die Zuschauerpräferenzen erweisen sich als in hohem Maße stabil, zumindest was die attraktivsten Programme betrifft. Möglicherweise ist gerade die Radikalität des Wandels ein Grund für die Stabilität programmlicher Vorlieben: Wenn immer mehr unterschiedliche Programmangebote um Aufmerksamkeit kämpfen, sich damit gegenseitig relativieren und für Unübersichtlichkeit sorgen, liegt es nahe, lange Zeit bewährte Präferenzen beizubehalten, nicht zuletzt wegen ihres Orientierungswerts. Sportübertragungen dürften überdies von einem traditionellen populärkulturellen Bonus zehren – schon lange vor der Einführung des Fernsehens gehörten Sportveranstaltungen zu den Höhepunkten der Freizeitkultur.

Im Jahr 2010

Das Nahen des Jahres 2000, womit eigentlich 2001 gemeint ist (ein neues Jahrtausend beginnt üblicherweise nicht mit dem Jahr „0“, sondern dem Jahr „1“), wird gerne als Anlaß für Spekulationen genommen. Ebenso wie im Falle von „1984“ handelt es sich zwar auch hier um einen Sieg des Mythos über die Realität, genauer: um einen Sieg der Zahlensymbolik über mathematische Logik, aber das interessiert keinen der vielen Propheten, die uns mit Sicherheit in den nächsten Jahren begegnen werden.

Die vorausgesagte „digitale Revolution“ wird mit einiger Sicherheit uns nicht als eine Revolution, sondern als ein langsamer Evolutionsprozeß treffen, dessen Ergebnisse nicht schon im Jahr 2000, sondern vielleicht 2010 einen auffälligen Wandel im Vergleich zu 1994 erkennen lassen.

Oder auch nicht. Eine nicht ganz unrealistische Prognose über das Fernsehen 2010 könnte etwa so aussehen: Mittlerweile besitzen die meisten deutschen Haushalte zusätzlich zu ihrem in der Mehrzahl noch analogen Fernsehgerät kleine Service- Terminals (in neueren Modellen sind diese Geräte bereits eingebaut), die dank Rückkanal für diverse Dienstleistungen genutzt werden. Die mit Abstand beliebtesten sind immer noch die Programmdienste (etwa 30, von denen sich einige in bis zu zehn Subdienste aufteilen wie etwa Premiere 1 bis 8), die teils gratis genutzt werden können, teils nach Nutzungszeit abgerechnet werden. Die meistgesehenen Programmangebote des Jahres sind wahrscheinlich das Halbfinalspiel der Fußballweltmeisterschaft (Nigeria – Deutschland, ZDF: 1,15 Mio. Zuschauer), das Endspiel im Europapokal der Pokalsieger (Fortuna Düsseldorf – Sheffield Wednesday, RTL 3) und das Kür-Eiskunstlaufen der Paare bei der Winterolympiade – wegen deutscher Medaillenchancen. Herausragende Nutzungswerte erzielen ferner ein George-Lucas- Spielfilm („Star Wars 7: Das Ende des Imperiums“, Sat.1), die neue ARD-Serie „Der Anwalt von Mallorca“ und die große Samstagabendshow von ZDF („Nicht zu fassen“, mit Hape Kerkeling)...

Leicht gekürzter Vorabdruck aus: „Medien an der Epochenschwelle“, Ästhetik und Kommunikation, Heft 88, Elefanten-Press-Verlag Berlin. Das Heft ist ab dem 20. Februar zum Preis von 16 DM über den Buchhandel zu beziehen.

1) Vgl. „Kanal voll“, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.10.1994, S. 17

2) Vgl. Hartmut Winkler, „Das Ende der Bilder?“, in: Knut Hickethier/Irmela Schneider (Hg.), Fernsehtheorien. Dokumentation der GFF-Tagung 1990, Berlin 1992, S. 228-235

3) Weshalb die in den letzten Jahren bemerkbare drastische Vermehrung des Fußballangebots im Fernsehen auch nicht zu einem Besucherrückgang in den Stadien geführt hat.