Der Waffenruhe fehlt die Grundlage

Nach Zehntausenden Kriegstoten in Tschetschenien setzten beide Seiten bis zu den heutigen Verhandlungen auf Eskalation / Russische Offensiven auf dem Land  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Moskauer Verhandlungen zwischen Repräsentanten des russischen Innenministeriums und Emissären des tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew kamen überraschend. Noch letzte Woche hatte der russische Generalstabschef Dudajew für vogelfrei erklärt, während der tschetschenische Präsident sich bei einem Treffen mit dem russischen Geschäftsmann und Vorsitzenden der „Partei der Ökonomischen Freiheit“, Konstantin Borowoj, kategorisch gegen einen solchen Waffenstillstand ausgesprochen hatte. „Er lehnte sofort ab und sagte, daß dies unter militärischen Gesichtspunkten für ihn nicht von Vorteil sei“, berichtete Borowoj der Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta: „Letztes Mal, als die Tschetschenen auf den Ukas Jelzins hereingefallen seien und einen Kilometer von der Front abgerückt seien, hätten die russischen Streitkräfte ihr Bombardement lediglich 15 Minuten lang eingestellt und sofort die von der Gegenseite aufgegebenen Positionen eingenommen.“ Mit Hilfe des islamischen Auslandes, versicherte Dudajew, glaube er den Kampf noch zehn Jahre fortsetzen zu können.

Russische Politiker hatten zugleich die militärische Aktion in Tschetschenien erstmals von einer Position relativer Stärke aus zu rechtfertigen versucht: Wenn auch der Krieg nicht gewonnen ist, so jetzt praktisch doch die Hauptstadt Grosny. Sergej Schojga, „Minister für außergewöhnliche Situationen“, konnte am Sonntag zum ersten Male von Aufbauarbeiten der föderalen Organe in der von ihnen zuvor zerstörten Stadt berichten. Einige Bäckereien und zwei öffentliche Kantinen haben in Grosny ihre Arbeit aufgenommen, eine epidemiologische Station soll in diesen Tagen folgen. Und gestern sollte das zentrale Wasserwerk probeweise wieder eingeschaltet werden. Von dem Erfolg dieses Experiments offenbar nicht allzu sehr überzeugt, hat Schojga zusätzliche Zisternen-Waggons mit Trinkwasser und fahrbaren Duschen nach Grosny beordert. Salambek Hadschijew, zur Zeit von Moskau designierter Premierminister einer provisorischen tschetschenischen Regierung, hofft auf eine „Normalisierung“ der Situation bis Ende Februar.

Unterdessen sprechen die tschetschenischen Freischärler von einer Neuorganisation ihres Widerstandes und kündigen das weitere Wirken kleiner Scharfschützengruppen auch in Grosny an. Bisher kontrollieren die Russen nur zwei der fünf tschetschenischen Provinzen. Die russische Armee geht gegen die östlich von Grosny gelegenen Städte Gudermes, Argun und Schali sowie gegen die im Kreise um die Stadt gelegenen Dörfer vor. Daß diese von Flüchtlingen überfüllt sind, trägt gewiß nicht zur Vertrauensbildung bei. Die Moscow Times zitiert Zeugenaussagen, denen zufolge auch solche Dörfer bombardiert werden, deren Einwohner sich für neutral erklärt hatten. Der tschetschenische Informationsminister Movladi Udugov erklärte am Sonntag, die eigenen Truppen hätten in dem südwestlich von Grosny gelegenen Dorf Alkhan Kala eine russische Raketenbasis vernichtet und dabei 250 Soldaten getötet.

Ob sich nicht jeder Sieg in dem bisher zweimonatigen Krieg allein durch die Zahl der Opfer in einen Pyrrhussieg verwandelt? Generalstabschef Kolesnikwo sprach in seiner Donnerstags-Pressekonferenz von bisher 1.020 Gefallenen auf russischer Seite. Diese Zahl wird energisch von der Organisation der Soldatenmütter angefochten, die von etwa fünfmal so hohen Verlusten ausgehen. Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsbeauftragten der russischen Regierung, Sergej Kowaljow, in Grosny schätzt die Zahl der Bürger der Stadt, die während der Kämpfe umkamen, auf 25.000.

Die Initiatoren der Aktion schieben sich die Schuld an deren Verlauf gegenseitig zu. Letzte Woche entließ Präsident Jelzin zwei Spezis des Verteidigungsministers Gratschow, die Generäle Burlakow – ehemaliger Chef der in Deutschland stationierten Heeresgruppe West – und Kondratjew. Gestern wurde General Boris Gromow, bisher einer der fünf Stellvertreter Gratschows, ins Außenministerium versetzt. Wesentliche kämpferische Energien der russischen Regierungsmitglieder dürften auch künftig in den Moskauer Hofintrigen gebunden bleiben.