Roman Herzog: Wir können nicht richten

■ Der Bundespräsident fordert in Dresden „Besinnung“ statt Aufrechnung und Anklage

Dresden (taz) – Mit einer „Klarstellung“ eröffnete gestern in Dresden Bundespräsident Roman Herzog seine Ansprache auf der zentralen Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Stadt: „Niemandem hier im Raum geht es um Anklage, niemandem geht es um das Einfordern von Reue und Selbstbezichtigung. Niemandem geht es um Aufrechnung mit den Untaten Deutscher im NS-Regime.“

An der Gedenkstunde im Dresdner Kulturpalast nahmen Überlebende der Bombardements vom 13./14. Februar 1945 sowie Repräsentanten aller zwölf Partnerstädte teil. Anwesend waren auch der Herzog von Kent als Mitglied des englischen Königshauses und der Bischof von Coventry, Simon Barrington-Ward. Grußworte sprachen Nick Nolan, Oberbürgermeister der englischen Partnerstadt Coventry, die am 14. November 1940 von deutschen Bombern völlig zerstört worden war, und der Dresdner Oberbürgermeister Herbert Wagner.

Der Bundespräsident erklärte für die Anwesenden: „Wir verwahren uns dagegen, daß irgend jemand unsere Trauer so auslegt, als wollten wir die Verbrechen, die Deutsche an den Menschen anderer Völker, aber auch an ihren eigenen Mitbürgern begangen haben, gegen die eigenen Kriegs- und Vertreibungsopfer aufrechnen.“ – Eine indirekte Anspielung auf den in der taz veröffentlichten offenen Brief des Publizisten Ralph Giordano, der Herzog vor der „verlogenen Trauer der Dresden-Ankläger“ gewarnt hatte.

Menschliches Leid könne nicht „saldiert“, es müsse „gemeinsam überwunden werden, durch Mitleid, Besinnung und Lernen“. Besonders an „die Historiker und historischen Laien“ richtete Herzog seine Mahnung, die „Ziffernspiele des Ungeheuerlichen“ zu unterlassen und nicht Opfer gegen Opfer aufzurechnen. Dies gelte auch für Historiker, die heute noch über die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus stritten. Es mache auch keinen Sinn, „darüber zu richten, ob der Bombenkrieg im juristischen Sinn rechtmäßig war“. Die entscheidende Frage für heute sei, „ob wir aus der Vergangenheit genug gelernt haben und ob wir alles tun, um die Wiederkehr des Schreckens zu verhindern“. Es gebe keinen besseren Ort in Deutschland, von dem diese Botschaft ausgehen könne, als Dresden. Das Schicksal dieser Stadt zeige „die ganze Sinnlosigkeit moderner Kriege“. Das Denkmuster, in Dresden hätten die Deutschen ihre „gerechte Strafe“ erhalten, sei „zu grobmaschig“. Unter den Opfern seien Nazis ebenso gewesen wie Juden, die schon auf den Deportationslisten standen, „nicht nur Menschen, die bei Kriegsausbruch gejubelt hatten, sondern auch solche, die in Tränen ausgebrochen waren“.

Am Vormittag hatten der Herzog von Kent sowie Diplomaten und Militärs aus den USA, aus Großbritannien und Deutschland gemeinsam mit DresdnerInnen auf dem Heidefriedhof Kränze niedergelegt. Unter den Fliegerangriffen der britischen und amerikanischen Alliierten am 13./14. Februar 1945 starben in Dresden zwischen 25.000 und 35.000 Menschen; die historische Innenstadt lag auf einer Fläche von 12 Quadratkilometern in Schutt und Asche. Detlef Krell Seite 5