„Protection“ nennen sie das

■ Was tun, wenn nachts die Wehen einsetzen, und die Wärterin wacht nicht auf? „Lock-up – The Prisoners of Rikers Island“ von Nina Rosenblum und Jon Alpert

Schon der erste Rap zählt: In kurzen, völlig unsmoothen Versen brüllt ein Schwarzer Name, Herkunft, Tathergang und Knastalltag heraus. Er ist einer von 17.000 Gefangenen auf Rikers Island; einer der 92 Prozent hier einsitzenden Afroamericans und Hispanics; einer von den 45 Prozent, die wegen Drogen eingesperrt sind. Er hatte bislang Glück — HIV-infiziert wie jeder vierte auf der Insel hat er sich nicht, und auch nicht mit Tuberkulose, unter der jeder fünfte leidet.

Nina Rosenblum brauchte sehr viele Zahlen, um ihre Dokumentation über den größten Gefängniskomplex der USA als korrekt sozialwissenschaftliche Studie getarnt abzusichern. Hier werden all jene eingesperrt, die nicht genügend Geld für den Anwalt und ihre Kaution haben. Denn Rikers Island ist eigentlich nur ein Durchlaufpunkt zwischen Verhaftung und Urteil. Mittellose aber warten bis zu einem Jahr auf ihren Prozeß.

Nur unter Sonderauflagen bekam die Filmemacherin eine Zusage der New Yorker Verwaltung, um innerhalb von drei Jahren insgesamt 80 Tage auf dem zwischen Bronx und Queens gelegenen Rikers Island zu drehen. Der Kurzfilm „The Beating of Raymond Alvarez“ darf jedoch in den Staaten nicht gezeigt werden. Er schildert den Fall eines jugendlichen Dealers, der in der U-Haft von Beamten so zusammengeschlagen worden war, daß er fast sein rechtes Auge verloren hätte. Danach saß er dreieinhalb Jahre.

Was Nina Rosenblum und ihr Kameramann Jon Alpert auch nicht filmen konnten, waren die Hitze und der Gestank; Krankheit und Verzweiflung dagegen schon: Jimmy Mirabel wurde in der Haft geboren und wird bald sterben. Seine Mutter war heroinabhängig, er selbst hat Aids. An die dreißig Mal ersucht der wegen Diebstahls inhaftierte Puertorikaner das Gericht um seine Entlassung, damit er die letzten Tage unter Freunden verbringen kann. Er wird abgewiesen, das Sicherheitsrisiko sei zu hoch, außerdem wolle man keinen Präzedenzfall schaffen.

Wie bei Arbeiten von Marcel Ophüls schildert „Lock-up“ in einer Mischung aus scheuen Halb- Off-Fahrten und krassen, plötzlich durchstoßend nahen Bildern aller Stationen der Gefangenen bis ganz unten: Leibesvisitation, die Gewalt in den Sammelzellen, Einzelhaft. Später dann stumpfes Herumlungern und allmählicher Hospitalismus. Ein manisch-depressiver Hispano erzählt, daß er eigentlich jemanden braucht, der auf ihn aufpaßt — „Protection“, wie er es nennt.

Für seine Vorstellungen von „Protection“ gibt der Staat New York täglich 160 Dollar pro Inhaftierten aus. Lösen kann er damit die Drogenprobleme kaum: Binnen vier Monaten sind zwei hochschwangere Frauen zurück im Knast; auch ihre Kinder werden hier zur Welt kommen. Nancys größte Angst besteht in der Ungewißheit. Was tun, wenn nachts die Wehen einsetzen, und die Wärterin wacht nicht auf? Und ein bißchen Liebe fehlt ihr auch.

Eddie White dagegen hat abgeschlossen: Vier Menschen soll er erschossen haben, 200 Jahre Knast stehen ihm dafür bevor. Allzu gefährlich sieht der kaum 20jährige Schwarze nicht aus. Das aber war sein Problem, „irgendwann war es mir zuviel, von den anderen nur herumgestoßen zu werden.“ Ein Teil der anderen kommt von Rikers Island. Harald Fricke

„Lock-up: The Prisoners of Rikers Island“. Regie: Nina Rosenblum, Kamera: Jon Alpert. USA 1994, 75 Min. (Panorama)