Das Land zerstören, um es zu behalten

„Du sitzt in einem Loch, und es regnet dir auf den Kopf“: Eindrücke aus dem Dschungelkrieg zwischen Ecuador und Peru, in dem Panzer und Kriegsschiffe nichts nützen, Nationalstolz dagegen um so mehr  ■ Von Ralf Leonhard

Vereinzelt dringt Kerzenschimmer durch die Fenster der schmucklosen Holzhäuser, während tropischer Regen auf die steinigen Straßen niederprasselt. Kein Mensch ist zu sehen, auch die Straßenköter haben sich verkrochen. Die wehrfähigen Männer sind im Bataillon konzentriert, Frauen und Kinder haben sich in den Urwald geflüchtet. Mit den Kampfhandlungen zwischen Peru und Ecuador hat sich das Grenzdorf Santiago in eine Geisterstadt verwandelt. Die Grenze, wo der Rio Santiago im rechten Winkel nach Süden abschwenkt, ist weniger als eine halbe Stunde Kanufahrt entfernt.

Der Schein einer einzigen Kerze beleuchtet im Gemischtwarenladen von Santigao fünf Männer und eine Frau um einen großen Holztisch: das Verteidigungskomitee von Santiago – bestehend aus dem Bürgermeister, dem Schuldirektor, dem Pfarrer, dem Chef der Zivilverteidigung und der jungen Medizinerin Consuelo Quesada aus der Küstenmetropole Guayaquil, die hier ihr Sozialjahr ableistet. Im Halbdunkel erinnert das Lokal an einen Drugstore im Wilden Westen. Es riecht nach Getreide und nassem Holz. Der 25jährige Carlos Zavala ist Lehrer, doch als Kommandant der Zivilverteidigung hat er Tarnuniform angelegt – der Unterricht wurde nach der ersten peruanischen Inkursion am 7. Januar suspendiert. Damals dachte noch keiner an Krieg. Peru versucht alle paar Jahre, die Grenze mit militärischen Vorstößen zu seinen Gunsten zu korrigieren, doch normalerweise kann nach kurzem Schußwechsel wieder entwarnt werden. Trotzdem wurden Vorbereitungen für den Ernstfall getroffen. Zavalas 24 Untergebene sind alles Mittelschüler, die die Soldaten an der Front mit Nachschub versorgen.

Der Konflikt, so berichten die Honoratioren der Gemeinde, schaukelte sich langsam hoch. Da waren im Dezember die beiden peruanischen Soldaten, die weit in unbestritten ecuadorianisches Territorium vordrangen und von Shuar-Indianern entwaffnet wurden. Da war das Geschoß, das der Dorflehrer Ende Januar von seiner Rinderfarm aus, wenige Kilometer von der Grenzlinie entfernt, unweit der Militärstützpunkte einschlagen sah; am folgenden Tag packten die ersten entsetzten Einwohner von Santiago ihre Sachen und flüchteten in das vier Stunden mühsame Autofahrt entfernte Méndez, im Schutz der Militärbasis von Patuca. Da waren die Armeehubschrauber, die über den ecuadorianischen Stellungen auftauchten, und da war schließlich am 26. Januar der Abschuß des ersten peruanischen Helikopters, der den offenen Konflikt auslöste.

Pfarrer Edwin Ojeda, mit schwarzem Vollbart, ausgewaschenem Hemd und alten Gummistiefeln nicht von den Bauern zu unterscheiden, kennt alle Anekdoten über das Leben an der Grenze. In Friedenszeiten bestünden geradezu herzliche Beziehungen zwischen den Soldaten, die beiderseits der vom Rio-Protokoll im Jahre 1942 gezogenen Demarkationslinie ihre Stellungen halten. Sie spielten Fußball oder Volleyball, und vor dem Seitenwechsel zur Halbzeit stellten sie einander aus Jux Passierscheine aus.

In Santiago, wo permanent über 5.000 Soldaten stationiert sind, werden täglich die peruanischen Kampfflugzeuge beobachtet. „Sie kommen meistens im Morgengrauen. Wahrscheinlich Aufklärungsmissionen – wegen der großen Flughöhe“, erklärt der diensthabende Major. Er versucht nicht, den Kriegshelden zu markieren; große Sprüche werden nur in der Hauptstadt geklopft. Hier, unmittelbar vor der Front, herrscht eine eher gedrückte Stimmung. Zu essen gibt es meist nur Reis mit Kartoffeln; Medikamente sind kaum vorhanden, und selbst das Chlor zur Reinigung des Trinkwassers wird nur hin und wieder angeliefert. Alle hoffen daher, daß es möglichst bald zu einer politischen Lösung kommt – ohne Gebietsverlust, versteht sich. Der Dienst im Schützengraben hat nichts Heroisches. „Du sitzt in einem Loch, und es regnet dir auf den Kopf“, mault ein Wehrpflichtiger. Die Rekruten, mehrheitlich aus dem Hochland oder der Küstenregion, leiden unter dem ständigen Regen, der drückenden Hitze, den Mosquitos, der kargen Kost und der Unsicherheit.

Nicht mehr als 20 Prozent der kaum 800 Einwohner von Santiago sind noch da. Die Männer, soweit sie nicht als Reservisten an die Front geschickt wurden oder sich als Milizionäre zur Verfügung halten, arbeiten gelegentlich auf den Feldern oder Weiden und suchen das nächstgelegene Luftschutzloch auf, wenn wieder ein Geschwader der peruanischen Luftwaffe auftaucht.

Die Urwaldzone ist für Landwirtschaft denkbar ungeeignet. Auf der lehmigen Krume gedeiht außer der genügsamen Yuca, Bananen und Zitrusfrüchten keines der traditionellen Grundnahrungsmittel. So leben die meisten Siedler von der Rinderzucht und vom unkontrollierten Holzeinschlag. Auf der Straße von Patuca nach Santiago zeigen verkohlte Baumstümpfe am Wegrand, wo wieder ein Stück Primärwald für Weideland freigemacht wurde. An vielen Stellen liegen Felsbrocken auf der holprigen Fahrbahn – die aufgelockerten Hänge kommen bei Regen leicht ins Rutschen. Anders als an der üppigen Pazifikküste, wo sich drei bis vier Kühe auf einem Hektar ernähren, beansprucht hier jedes Rind zwei Hektar; trotzdem sind auch immer mehr der ursprünglich nomadisierenden Shuar-Indianer zu seßhaften Viehzüchtern geworden.

Die nach dem ecuadorianisch- peruanischen Krieg 1941 gezogenen Grenze hat ihr Volk zweigeteilt. Obwohl viele der rund 6.000 Shuaras Verwandte auf der anderen Seite haben und auch heute noch gelegentlich über die Grenze geheiratet wird, ist die staatliche Assimilierungspolitik erfolgreich. „Ich bin Ecuadorianer, und ich bin Shuar“, verkündet Schuldirektor Pedro Uvigidio, dessen von tiefen Falten zerfurchtes Gesicht im flackernden Kerzenschein wie die Maske eines Schamanen wirkt. Er vergleicht die Situation seines Volkes mit der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und bestätigt, daß die meisten Männer sich freiwillig gemeldet haben, um eine Grenze zu verteidigen, die ihr Volk trennt. Die Brüder auf der anderen Seite würden zwangsrekrutiert und als Kanonenfutter verheizt.

Schon vor über hundert Jahren begannen Salesianer den Urwaldindios die Kirche nahezubringen. Heute machen die Shuaras oder Jivaros, wie sie in der ethnologischen Literatur heißen, ihre Schrumpfköpfe nicht mehr aus den Häuptern von Missionaren oder bezwungenen Gegnern verfeindeter Stämme, sondern nur mehr aus Affenschädeln. Bestimmte Gebräuche wie die Anwendung natürlicher Heilmethoden durch die Schamanen oder das polygame Eheleben haben ihnen die frommen Brüder allerdings nicht austreiben können. Wer eine Frau ehelicht, der bekommt die jüngeren Schwestern gleich mitgeliefert. Das stärkt die Sicherheit der Familie, macht vom Aspekt der Arbeitsteilung Sinn und fördert auch das Sozialprestige.

Santiago ist ein mehrheitlich indianisches Dorf. Nur etwa 60 mestizische Familien leben ständig her, weitere hundert sind Angehörige der im Bataillon stationierten Soldaten. Die Besiedlung der Zone, die nach der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro systematisch gefördert wurde, sollte sowohl verarmten Bauern aus den Dürregebieten im Süden und Westen Ecuadors eine neue Lebensgrundlage verschaffen wie auch die Souveränität über das Grenzgebiet untermauern. Aber „Gesetze, die die Ausbeutung der Forstreserven regeln, liegen in Quito im Schreibtisch“, klagt der Pfarrer: Aufforstungspolitik ist hier unbekannt, Brandrodung zur Erschließung neuen Wiedelandes die Regel.

An Umwelterziehung ist in Santiago nicht zu denken. Von den drei Lehrern hat sich einer noch vor Ausbruch des Konflikts in die USA abgesetzt. Den beiden verbliebenen, die sich mit 130 Grundschülern herumschlagen müssen, gelingt es kaum, ihren Schützlingen das Einmaleins beizubringen. Der Unterricht muß zudem zweisprachig stattfinden: Spanisch und in der Shuara-Sprache. Mangels staatlicher Unterstützung hatten die Dorfbewohner keine andere Alternative, als das Schulgebäude selbst zu bauen.

Genauso katastrophal für die Umwalt wie die Entwaldung ist die Goldsuche, das erste Projekt, für das sich Siedler und Shuaras zusammentaten. Unter dem Einfluß der Zivilisation zerstören die indianischen Goldsucher, was ihnen am heiligsten ist: die Erde. Wo das empfindliche Erdreich aufgewühlt und mit Schwefelsäure verseucht wurde, wächst kein Wald mehr.

Die Goldadern liegen zum Teil in dem Gebiet, das heute von Peru reklamiert wird, seit Menschengedenken aber einzig von ecuadorianischer Seite effektiv kontrolliert wird. Pietro Gabrielli, Bischof der Diözese Macas und Herr über die 40.000 Seelen der Urwaldprovinz Morona Santiago, ist einer der besten Kenner der Grenzzone. Unzählige Male hat er in den letzten 38 Jahren die Grenzposten besucht. Von peruanischer Seite, so versichert der gebürtige Italiener, gebe es nicht nur keine Zufahrtswege, sondern bis vor kurzem auch keine Ansprüche. „Die peruanische Regierung belügt ihr Volk, wenn sie behauptet, daß ihr der Vertrag von Rio de Janeiro dieses Gebiet zuspricht“, versichert der Kirchenmann und zieht auf der Landkarte die Grenze nach.

Peru konnte sich nach dem Krieg mit Ecuador mehr als ein Drittel des ecuatorianischen Territoriums einverleiben und gewann damit die Kontrolle über die Amazonas-Nebenflüsse Napo und Maranon ab den Punkten, wo sie schiffbar sind. Auch die damals bekannten Ölvorkommen blieben auf peruanischer Seite. Dabei erwies sich die auf dem Schreibtisch gezogene Grenze schon bei der Demarkierung als unexekutierbar: Südlich vom Grenzpfahl 12, unweit des ecuadorianischen Dorfes Gualaquiza, stimmt die tatsächliche Topographie nicht mit den Karten von 1942 überein. Statt eines Bergrückens verlaufen hier zwei. Die Grenzziehung konnte nicht einvernehmlich geregelt werden, 78 Kilometer blieben unvermessen.

Für den Anspruch der Peruaner auf die jetzt angegriffenenen Gebiete westlich der eindeutig vermessenen Grenze gibt es keine völkerrechtliche Grundlage. Auf peruanischer Seite fehlt auch das besiedelte Hinterland. Die Soldaten können sich dort weder auf eine soziale Basis noch auf verläßliche Führer stützen. Anders ist es nicht zu erklären, daß eine ganze Kompanie peruanischer Spezialtruppen tagelang im Dschungel umherirrte. So ist es den Ecuatorianern erstmals gelungen, den Erzfeind Peru, dessen Panzer und Kriegsmarine im Urwald wenig nützlich sind, militärisch in Schach zu halten. „Wenn es uns gelingt, das Land zu halten und einen ehrenvollen Frieden zu schließen“, hofft der Schuldirektor von Santiago, „dann schickt uns die Regierung vielleicht die Schulbänke, die sie uns so lange schon versprochen hat.“ Bisher müssen dafür abgesägte Baumstümpfe herhalten.