■ Ralph Giordano zu Roman Herzogs Rede in Dresden
: Dreimal hakte es in mir

Die Trauerfeier um die Toten der Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 hat mich bewegt. Die verhaltene Einleitung durch den Bürgermeister Dresdens, der Auftritt von Nick Nolan, Bürgermeister von Coventry, seine sympathische Unrhetorik und offenbare Glaubwürdigkeit, schließlich Roman Herzogs Rede, die Art und Weise, wie der Bundespräsident sie vortrug und hinter ihr stand – das konnte nicht ohne Eindruck bleiben. Dennoch habe ich gespürt, daß es dreimal in mir gehakt hat. Das erste Mal, als Herzog von „der Sinnlosigkeit moderner Kriege“ sprach. Das entkonkretisierte die Situation, um die getrauert wurde, und ihre historischen und politischen Zusammenhänge. Der Krieg gegen Nazideutschland, der Sieg der Anti-Hitler-Koalition, sie waren notwendig – und lehrreich: Aggressoren müssen gestoppt werden, auch heute, und zwar möglichst bevor sie einen Krieg auslösen können.

Das zweite Mal hakte es, als von „Versöhnung“ die Rede war. Ist damit doch stets gemeint, daß Deutsche sich mit den Gegnern von damals, diese Gegner sich mit den Deutschen versöhnen sollten – als wenn die Ausgangspositionen beider ein und dieselben gewesen wären! Von solcher Gleichsetzung kann aber nicht die Rede sein, weil in dem Kampf, an dessen Ende Dresden unterging, Recht und Unrecht zu ungleich verteilt waren. Mitte Februar 1945 hatte die deutsche Aggression gegen Europa und die Welt sich der endgültigen Totenziffer des Zweiten Weltkrieges, 50 Millionen, schon erheblich genähert. Mir hat imponiert, was Robert Leicht in der Zeit dazu gesagt hat: Womit er sich nicht versöhnen könne, das seien die deutschen Verbrechen – darin lägen seine Versöhnungsschwierigkeiten. Das ist eine viel tiefere Interpretation als die allgemeine Versöhnungsformel.

Zum dritten Mal, und am heftigsten, hakte es in mir denn auch, als Roman Herzog jene große Trauer- Charta zitierte, die alle Toten des Zweiten Weltkrieges sozusagen posthum in einem gemeinsamen Grab beisetzen will, und dann auch gleich aufzählte: die Gefallenen an den Fronten – und die Zivilermordeten gleich dahinter; Konzentrationäre – und Vertriebene; Flüchtlinge – und die Gaskammertoten von Auschwitz ... Da stockt einem der Atem – wer soll hier in einem „versöhnenden Gedanken“ nachträglich vereint werden? Der später gefallene Einsatzgruppenpistolero mit den Hunderten, Tausenden von Männern, Frauen und Säuglingen, die er zuvor ermordet hatte? Die Erschossenen von Lidice, die lebend Verbrannten von Oradour-sur-Glane mit ihren später gefallenen SS-Mördern? Oder Roland Freisler, der Massenmörder in der „Volksgerichtshof“-Robe, den im Februar 1945 eine Bombe dahinraffte, mit den von ihm verurteilten und an Klaviersaiten aufgehängten Widerständlern des 20. Juli 1944? Welch mystifizierende Totenauffassung steht hier Pate, will Opfer neben Täter, Mörder neben Ermordete legen? Nein, nein und abermals nein! Versöhnung? O ja, aus vollem Herzen! Aber nur unter dem Primat einer ehrlichen Trauerarbeit, die Opfer und Täter nicht im Tode einebnen will. Alles andere wäre eine „Umbettung“ à la Alfred Dregger. Sie war gewiß, siehe oben, nicht der Tenor der Dresdner Trauerfeier – aber frei, wirklich ganz frei davon war die Feier deutscherseits immer noch nicht. Ralph Giordano

In einem offenen Brief an Roman Herzog (taz vom 2. 1. 95) hatte der Autor den Bundespräsidenten gemahnt, in dessen Rede zu Dresden klare Worte gegenüber jenen zu finden, für die 1995 die große Stunde der Aufrechnung sei, die „Hoch-Zeit unentwegter deutscher Verdränger. Und deren Paradebeispiel [...] ist die Zerstörung Dresdens“.