„Der Hunger gehört zum Alltag“

Die UNO bedauert die Kämpfe in der bosnischen Enklave Bihać, kann jedoch nicht helfen / Neue Soldaten für die Serben / Hilfsorganisation relativiert die Zahl der Todesopfer  ■ Aus Split Erich Rathfelder

Seit dem 1. Januar gilt für ganz Bosnien ein Waffenstillstand. Doch der Krieg um die Enklave Bihać geht nicht nur weiter – die Kämpfe haben sich in den letzten Tagen sogar verstärkt. Rund 900 Soldaten, wahrscheinlich aus dem serbisch besetzten Teil Bosniens, sind nach Angaben des Pressebüros der UNO in Zagreb in der serbisch besetzten kroatischen Krajina eingetroffen, um die dortigen serbischen Truppen zu verstärken. Gemeinsam mit dem 2. Krajina- Korps und den Truppen des abtrünnigen Muslimführers Fikret Abdić versuchen sie, die Verteidigungsstellungen der bosnischen Armee bei den Städten Bihać und Velika Kladuša zu durchstoßen.

Weiterhin sind nach UNO-Angaben 300 Soldaten zur Verstärkung für die bosnisch-serbischen Truppen im Süden der Enklave eingetroffen. Bisher ist es ihnen jedoch nicht gelungen, entscheidende Bodengewinne zu erzielen. Im Gegenteil: Die bosnischen Streitkräfte melden Erfolge bei Bihać, nach eigenen Angaben und Informationen aus dem UNO- Hauptquartier in Zagreb haben sie das Bihać vorgelagerte Dorf Vedro Polje eingenommen.

An der Frontlinie zur Stadt Bihać sind von UNO-Beobachtern seit Montag über 150 Granateinschläge verzeichnet worden. „Wir sind uns des Ernstes der Lage in der Region um Bihać bewußt“, erklärte schon vor einigen Tagen der Sprecher der UNO im Hauptquartier in Zagreb, Peter Williams. „Wir können jedoch nur im Rahmen unseres Mandates auf die Konfliktparteien einwirken, zu friedlichen und politischen Mitteln der Konfliktlösung zurückzukehren.“ Williams wörtlich: „Die Angriffe aus einem von den UNO- Truppen besetzten Gebiet (United Nations Protected Area Krajina) gegen eine von der UNO geschützte Zone (Schutzzone Bihać) nach einem von der UNO vermittelten Waffenstillstand würden außerordentlich bedauert“. Eine Erklärung zur gegenwärtigen Lage sei in Vorbereitung.

Von der UNO-Hilfsorganisation UNHCR und örtlichen Autoritäten in Bihać wurde gestern auf die katastrophale Versorgungslage der Menschen in der nun schon seit fast drei Jahren bestehenden Enklave hingewiesen. „Das Essen ist für alle knapp, die wenigen Konvois, die durchgekommen sind, brachten nur Lebensmittel, die an Randgruppen, an Kinder, Alte oder an Kranke verteilt werden konnten, wir befinden uns in einer Hungersnot“, heißt es in einer über Radio Sarajevo verbreiteten Erklärung. Gestern blockierten die Serben erneut einen Hilfskonvoi. Dramatisch sei nach wie vor die Versorgung mit Medikamenten, so müßten nach wie vor Operationen ohne entsprechende Medikamente durchgeführt werden. Nach Angaben des UNHCR ist es seit Anfang Januar 1995 lediglich sieben Konvois gelungen, in die Enklave zu gelangen, das waren 307 Tonnen Lebensmittel für den Bedarf einer Bevölkerung von rund 170.000 Menschen.

„Der Hunger gehört zum Alltag“, bestätigte gestern der Repräsentant einer internationalen Hilfsorganisation, dem es in den letzten Tagen gelungen war, nach Bihać zu gelangen. „Aber die Lage ist nicht so dramatisch, wie manche es von außen sehen möchten. Es sind keineswegs Zehntausende getorben, wie vor Monaten gemeldet, es sind seit Oktober letzten Jahres lediglich eintausend Menschen umgekommen und einige tausend verletzt worden.“ Macht sich in den internationalen Hilfsorganisationen angesichts der eigenen Hilflosigkeit Zynismus breit?

Bosnische Regierungsquellen zeigen sich weiterhin dankbar für die Anstrengungnen der Hilfsorganisationen, „die mit ihrem Einsatz helfen, das physische Überleben der Menschen in der Enklave zu sichern“. Doch bei der Bewertung der Politik der UNO-Blauhelme werden die kritischen Stimmen immer lauter. Daß der Stimmungspegel der bosnischen Bevölkerung gegenüber der UNO umgekippt ist, zeigte sich in den letzten Tagen bei direkte Attacken auf UNO-Fahrzeuge in der Region Tuzla und der Enklave Srebrenica. Der Kommandeur des 5. Korps der bosnischen Armee, Atif Dudaković, erklärte, daß die Lage in Bihać zusätzlich erschwert werde „durch die Untätigkeit der Vereinten Nationen gegenüber der serbischen Seite, die alle UN-Resolutionen in bezug auf die Schutzzonen nicht beachtet hat“.

Gemeint ist damit nicht nur der Einsatz von Truppen aus Bosnien- Herzegowina in Kroatien, dies allein müßte schon den Protest herausfordern. Gemeint ist auch, daß nach der Ende Oktober erfolgten Aufstellung von russischen Sam- Flugabwehrrakten – die unter Bruch des UNO-Waffenembargos in das serbisch besetzte Bosnien gelangt sind – die Nato-Flüge zur Überwachung des Flugverbotes eingestellt worden sind. Daß der Beschuß mit Artillerie gemäß den Resolutionen der UNO eine Reaktion herausfordern müßte, wird schon gar nicht mehr erwähnt. Die im Sommer 1994 diskutierte Forderung, in Bihać ähnlich wie in Sarajevo eine artilleriefreie Zone zu schaffen, ist von UNO und Nato längst aufgegeben worden.