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Als die Polizei den Züricher Letten-Bahnhof räumte, war da schon keiner mehr: Die Szene hatte sich zurückgezogen. Viele Süchtige werden jetzt in ihre Geburtsorte „verbannt“ – eine Wende in der Schweizer Drogenpolitik. Aus Zürich Michaela Schießl

Großer Paukenschlag ins Leere?

Die Züricher Boulevard-Zeitung Blick jubelt: „Heute verschwindet Zürichs Schandmal“, titelt sie am Dienstag, und feiert in Riesenlettern „den letzten Schuß am Letten“. Zwei Jahre lang war der stillgelegte Bahnhof Letten im Züricher Quartier 5 Treffpunkt der Junkies – und die größte offene Drogenszene Europas. Jetzt ist er geräumt und umzäunt: „Großer Paukenschlag“ nannte die Polizei ihre Aktion.

Mehrere tausend Süchtige hielten sich im Sommer am Letten auf, Drogenabhängige aus der ganzen Schweiz trafen sich hier, um sich ungehindert mit Stoff einzudecken. Der harte Kern bestand aus 150 bis 250 Schwerstsüchtigen, die meisten von ihnen krank und ohne festen Wohnsitz. Eine Gruppe der 400 bis 600 Abhängigen hatte noch Obdach und soziale Beziehungen: Sie lebten tage- und wochenlang in der Szene, kehrten jedoch immer wieder in ihre Umgebung zurück.

„Nur rund 20 Prozent aller Drogenkonsumenten am Letten stammen aus der Stadt, 30 Prozent aus dem Kanton Zürich und die restlichen 50 Prozent aus den anderen Kantonen und dem Ausland“, sagt Gesundheitsdirketor Ernst Buschor. Mitte 1994 wuchs die Szene derart an, daß Kamerateams aus der ganzen Welt anreisten. Sie filmten Junkies, die im Müll zwischen den Gleisen lagen, sich in aller Öffentlichkeit ihren Druck setzten, in vereiterte Hälse und nässende Arme, betreut von „Gassenarbeitern“ und ausgerüstet mit sauberen Spritzen vom Sozialamt.

Ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit sei das, meinte der rot- grüne Stadtrat. Dann kam es, im Sommer 1994, am Letten zu einer Schießerei zwischen Kosovo-Albanern und Libanesen: vier Tote. Das Gerücht vom „Krieg der Drogendealer“ machte die Runde. Gleichzeitig nahm die Belästigung der Anwohner zu: Kinder wurden auf dem Weg zur Schule von Dealern angemacht, Einbrüche häuften sich – und die Immobilienpreise sanken. – Die Stadt wurde mit dem Problem und den enormen Folgekosten nicht mehr fertig. Sie schwankte zwischen Repression, Therapie und ärztlich kontrollierter Heroinabgabe. Nun hat vorerst die Repression gesiegt.

Zuvor wurden die Rahmenbedingungen geschaffen. Die Razzien nahmen zu, die Züricher Wochenzeitung berichtet von Übergriffen der Polizei, besonders gegen Ausländer, die als potentielle Dealer gelten. Spindeldürre, ausgemergelte Gestalten wurden schikaniert, geschlagen, mit Gummischrot beschossen. Sie mußten sich nackt ausziehen, ihre Kleider warfen Beamte in den Fluß Letten.

Im Dezember stimmten 75 Prozent der Schweizer Wähler dem neuen Gesetz über Zwangsmaßnahmen im Ausländerrecht zu. Seit dem 1. Februar können Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung zwölf Monate lang inhaftiert werden, auch ohne ein Delikt begangen zu haben. Bislang konnten Dealer nicht abgeschoben werden, wenn sie keine Papiere hatten. Die zulässige Haftdauer reichte für die Beschaffung der Papiere nicht aus, die Beschuldigten kamen frei.

120 neue Gefängnisplätze wurden geschaffen. Auf dem Kasernenareal entstand ein Rückführungszentrum mit 60 Aufnahmeplätzen. Dann waren die Vorbereitungen beendet – zu Beginn der Schulferien konnte die Aktion „Großer Paukenschlag“ beginnen: „Die Behörden von Kanton und Stadt Zürich dulden ab Dienstag, 14. Februar, 0 Uhr, weder hier noch anderswo offene Drogenszenen“, kündigten Plakate an, die rund um den Letten geklebt wurden. Seit gestern werden Dealer verhaftet, wird der öffentliche Drogenkonsum verfolgt, Junkies wird der Stoff abgenommen. Süchtige mit Wohnsitz in Zürich werden vom städtischen Sozialamt betreut. Auswärtige Drogensüchtige kommen in das Rückführungszentrum. Von dort aus werden sie zurück in ihre Heimatgemeinden geschickt, die sich fortan um sie zu kümmern haben. Die Stadt Zürich, so erklärt der Stadtrat, könne nicht alle Süchtigen des Landes versorgen.

21 Fernsehteams aus aller Welt waren angereist, um über die Großrazzia zu berichten. Doch außer den Medien und der Polizei war am Dienstag morgen niemand mehr am Letten. Die Szene hatte sich längst verzogen, in die Straßen und Gassen der Stadt. So konnte die Polizei in aller Ruhe Stahltore anbringen, Nato-Draht legen, das gesamte Areal absperren. Mittags kamen die Aufräumkommandos. Männer von der Stadtreinigung begannen, die zentimeterdicke Schicht aus Spritzen, Dosen, Müll jeder Art abzutragen.

Zirka 300 Polizeibeamte sind in ganz Zürich im Einsatz, um die Neubildung einer offenen Szene zu verhindern. Mehrere Wochen lang wird das Aufgebot wachen, denn schon einmal war eine Räumung gescheitert: 1992 ließ die Stadt den damaligen Fixer-Treffpunkt Platzspitz sperren. Nur wenige Wochen später formierte sich die Szene am Letten neu. Das soll nun verhindert werden. „Wir wissen, daß wir die Szene nicht auflösen können. Doch wir wollen eine verdeckte Drogenszene, keine offene mehr“, sagt Uli Minder, Präsident der Kantonkonferenz. Die Polizei hat die Züricher Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen. 12.000 Flugblätter wurden verteilt mit dem Aufruf, es sofort zu melden, wenn man eine Ansammlung Drogensüchtiger entdeckt: „Schließen Sie Haustüren und Nebeneingänge auch tagsüber! Sprechen Sie unbekannte Personen an, und weisen Sie Unberechtigte weg! Reden Sie mit ihren Kindern, machen Sie auf mögliche Gefahren aufmerksam!“

Um die Fixer in ihren Heimatgemeinden zu halten, wird mit den verschiedenen Kantonen verhandelt. Die Gemeinden, deren Drogensüchtige sich bislang nach Zürich abgesetzt hatten, sind zunehmend bereit, sich selbst um die Süchtigen zu kümmern. Was andererseits natürlich auch dazu führen kann, daß die Dealer selbst im kleinsten Bergdorf ihre Abnehmer finden.

In Zürich wird sich jetzt die Frage stellen, ob eine verdeckte Szene nicht unkontrollierbar ist. Schon jetzt wurden Fälle bekannt, wo Immobilienhaie mehrere Wohnungen an Dealer vermieteten, zu Höchstpreisen. Junkies werden als Verteiler angeworben. Der Preis für Heroin und Kokain wird steigen und mit ihm die Beschaffungskriminalität.

Ein Modell, wie man mit den Süchtigen umgehen kann, versucht der Pfarrer Ernst Sieber. Er mietete in Kollbrunn, einem Züricher Vorort, eine stillgelegte Fabrik. Sein Ziel: die Junkies ohne Abstinenzgebot von der Straße zu holen. Sieber akzeptiert, daß es Menschen gibt, die Drogen konsumieren wollen. Auch in Zug wird ein zeitlich befristeter Versuch mit kontrollierter Heroinabgabe gestartet.

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