Das Gesicht der Dinge

■ Der Kinderblick auf die Welt. Wiederveröffentlichte Comics des Expressionisten Lyonel Feiniger setzen Maßstäbe

Alle Wunder haben im Comicbereich profane Ursachen. Lyonel Feininger, der expressionistische Maler, schuf seine ganzseitigen, farbigen Comicseiten 1906 als Konkurrenzprodukt zu denen des Zeitungsmoguls Hearst. So hat es kein Jahr gedauert, bis die beiden Serien „Kin-der-Kids“ und „Wee Willie Winkie's World“ abgesetzt wurden. Wunder sind kurzlebig.

„Kin-der-Kids“ ist ein Abenteuerroman mit einer einfachen Story, aber skurrilen Figuren und sonderbarem Inventar. Drei Kinder: ein Kluger, ein Starker, ein Vielfraß sowie ein Dackel und ein menschlicher Automat machen sich in einer Badewanne auf die Reise. Wohin und wozu wird nicht erklärt. Fest steht nur, daß sie auf diese Weise dem Lebertran ihrer Tante entkommen. Die nimmt allerdings die Verfolgung auf. Unterwegs werden Wale erlegt, Bootsrennen gewonnen, eine Windrose mit einer „sechseinhalbschüssigen“ Pistole erlegt, Kirchtürme von Heißluftballons abgerissen. Einige Details sind aberwitzig: das Schild „Betreten Verboten. Privatwolke“ auf der (Flug-)Wolke des geheimnisvollen Pete; oder eckige Wellen. Absurde, protosurrealistische Kurzhandlungen. Ähnlich wie bei „Little Nemo“, vor allem aber wie in Herrimans „Krazy Kat“ offenbart sich hier eine Tendenz früher Comics: der spielerische Impuls, bildnerische und logische Grenzen zu durchbrechen. Derrida sollte Comics lesen.

Ein anderes Motiv der Durchbrechung steht im Zentrum von Wee Willie Winkie's World: die Aufhebung des Gegensatzes belebt/unbelebt. Das Kind Willie sieht auf Häuser, Windmühlen, Straßenbahnen, Wolken – und schon zeigen sich Gesichter, menschliche Regungen, schon kann mit den Dingen gesprochen werden. Walter Benjamin hat diese Fähigkeit von Kindern beschrieben: „Jede Kindheit entdeckt diese neuen Bilder, um sie dem Bilderschatz der Menschheit einzuverleiben.“ Eine Gesellschaft, die sich alles Unbelebte anverwandelt hätte, wäre nicht von untergründiger Angst beherrscht. Der ungeheure Eindruck der Bilder mag von Versöhnung mit dem Unbelebten, der Technik, den Objekten herrühren. Auch wenn Kindheit nie wirklich so schön war.

Der Band von Neil Gaiman und Dave McKean erzählt nicht die Geschichte um einen Jungen und „Punch and Judy“, ein englisches Puppentheater, er zelebriert sie. Möglichst viele Zeitebenen und Erzählperspektiven, Episödchen und Nebensächlichkeiten. Das Ganze aufgeblasen zur „memoire involontaire“ à la Proust und voller gestelzter Waberrede: „Damals lebte ich im Land der Riesen. Wie alle Kinder. In einer perfekten Welt würde ich dies mit Blut statt mit Tinte schreiben.“ Für solche Ergüsse hat der Szenarist Gaiman in McKean einen kongenialen Zeichner gefunden: verwischte braune Fotos, Hochglanzfotografie von alten Objekten, edelste Collagen und, ach ja, ein paar einfache Panels. Kunst-Comic-Kunst, ästhetisiert und blutleer. Bei Gaiman/McKean stirbt das Geheimnis im Bombast. MartinZeyn

„Die Comic-Kunst des Lyonel Feininger“. Carlsen, Hamburg 1994, 49,80 Mark (hieraus die Abb.)

Gaiman/McKean: „Die tragische Komoedie oder komische Tragoedie des Mr. Punch“. Feest Verlag, Stuttgart 1994, 49,80 Mark