Die Schreie Jelzins hört niemand

Heute spricht Rußlands Präsident vor dem Parlament zur Lage der Nation / Doch sein Abstand zu dieser Nation ist inzwischen riesig / Noch lieben die Sterndeuter Boris Jelzin  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Nur ein Satz aus seiner heutigen Adresse an die Duma habe Präsident Jelzin in den letzten Tagen noch Kopfzerbrechen bereitet, sickerte aus seiner Umgebung durch: nämlich eine Formulierung, mit der sich Boris Nikolajewitsch nach der Erfahrung des Tschetschenien- Debakels direkt an das russische Volk wenden wolle. Sie solle die Bitte enthalten, ihm noch ein letztes Mal den politischen Kredit zu verlängern. Jelzin, der einmal das Image eines „Politikers zum Anfassen“ hatte, spricht zum Volk inzwischen aus großer Entfernung. Die ihn umgebenden bürokratischen Apparate – darunter drei miteinander konkurrierende Expertenräte – sind zu einer Gummizelle geworden, aus der die Schreie der Präsidentenseele nicht mehr nach außen dringen.

„Jelzin versteht nicht, daß er noch alle Chancen zum Sieg hätte, wenn er nur wieder ,unser Jelzin‘ wird“, seufzt die demokratisch orientierte Boulevardzeitung Moskowski Komsomolez. Gerade diese Rückverwandlung aber ist dem Präsidenten irgendwie verwehrt – sei es durch das Spiel seiner Neurotransmitter oder eine Konstellation der Sterne. Der Verdacht, daß Jelzin dem Alkohol mehr zuspricht, als für ihn gut ist, gilt dem Volke als Gewißheit und hat beim GUS-Gipfel vor einer Woche in Alma-Ata neue – flüssige? – Nahrung erhalten.

Jemand, dessen Haltung derart rätselhaften Schwankungen unterliegt, kann es sich nicht leisten, irgendwelche möglichen Ursachen dafür außer acht zu lassen. So wäre es nur logisch, wenn beim Chef der Leibwache des Präsidenten, General Alexander Korschakow, wirklich eine Sterndeuterbrigade – gemeint waren Astrologen – für Jelzin wirke, wie Moskowski Komsomolez kürzlich unwiderlegt berichtete. Korschakow, der in den Zeiten von Jelzins Verfolgung durch die KPdSU als einfacher Leibwächter zu ihm hielt, mischt sich heute in die Politik.

„Unter unstabilen Verhältnissen und bei niedriger politischer Kultur, wie zum Beispiel im Mittelalter, gewannen Leibwächter und andere dem Leib des Herrschers nahestehende Personen ein ungewöhnliches Gewicht bei der Entscheidung von Staats- und besonders von Personalfragen“, spöttelte die Sewodnja. Auf Nachfragen der Moscow News, ob bei der Leibwache denn schon ein eigenes politisch-analytisches Zentrum existiere, gibt der Chef des präsidialen Apparates vor, darüber nichts zu wissen: Weil „die Struktur von General Korschakow nicht zur Verwaltung gehört“. Und wozu gehören die Ohren in den Wänden derselben Verwaltung, an deren Existenz die Präsidenten- Mitarbeiter fest glauben und deshalb per Zettelnotiz miteinander reden?

Im Verlauf des Krieges haben sich die Fraktionen der Hofkamarilla neu formiert, Hand in Hand mit der Herausbildung neuer politischer Koalitionen im Lande. Da konsultieren sich plötzlich Vorsitzende diverser Duma-Komitees mit dem großmäuligen General Lebed. Und da beschuldigte am Montag eine Gruppe nicht genannt sein wollender liberaler Deputierter Jelzin, sich allmählich eine eigene Parlamentsfraktion zusammenzubestechen. Alexander Loginow, Leiter des präsidialen Departements für die politischen Parteien, hätte während eines Seminars auf einer Regierungsdatscha etwa zwanzig Abgeordneten aus allen liberalen und zentristischen Fraktionen Posten, Wohnungen und Wahlkampfunterstützung versprochen, falls sie ihrerseits zum Präsidenten hielten. Der Beschuldigte wies den Vorwurf zurück, gab das „Seminar“ als solches aber zu.

Ganz objektiv hat Jelzins bisherige Hausmacht, die Fraktion „Rußlands Wahl“, durch ihre Opposition zum tschetschenischen Abenteuer eine Nische für jene Parlamentarier freigeräumt, die sich uneingeschränkt hinter die herrschende Staatsmacht zu stellen wünschen. Nach allen staatsmännischen Regeln wird Jelzin heute versuchen, Kompromißformeln zu finden, die sowohl solche eher konservativen Hinterbänkler als auch die wenigen unbeugsamen Reformer in seinem Apparat ansprechen. Es ist zu erwarten, daß er irgendeine Formel von der Verbindung eigener „nationalstaatlicher Interessen“ und einer möglichst weiten Öffnung gen Westen findet. Unabhängige Militärexperten befürchten, daß Jelzin in seiner Rede versuchen wird, den Verteidigungsminister überflüssig zu machen, indem er sich das Oberkommando der Armee persönlich unterstellt. In diesem Falle gerieten auch militärische Entscheidungen in den Wirkungsbereich der „Strukturen“ Korschakows. Im Inneren des Präsidenten-Apparats würden sich die bisher unkoordinierten Befehlsstränge der russischen Armee endlich zum gordischen Knoten verheddern.