Wunderschön gebohrt

■ Wenn der Zahnarzt hypnotisieren kann / Von Turbotrance und schwebenden Armen

Die Patientin hatte ein Problem: Ihr Mund war randvoll mit faulen Zähnen, sie vertrug aber keine Spritzen. Zweimal war sie aus einer Zahnarztpraxis mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht worden. Schließlich war sie bei Dr. Stöcker gelandet. Dr. Stöcker ist nicht nur Zahnarzt, sondern auch Hypnotiseur. Er versetzte seine Patientin in eine tiefe Trance und schliff 10 (zehn) Zähne ab. Dann ging es an den Backenzahn, der gezogen werden mußte. „Doch immer, wenn ich mit der Zange kam, kam sie aus der Trance raus“, erinnert sich Dr. Stöcker. Was nun folgte, ist nicht typisch für Hypnotiseure, aber typisch für einen wie Stöcker: Er packte die Dame in sein Privatflugzeug, düste nach Stuttgart zu seinem Hypnoselehrer, und im Banne von schließlich drei Hypnotiseuren gelang's dann.

Der Zahnarzt als Hypnotiseur: Das ist den einen zu halbseiden, erinnert sie an die Varieté- und Discospäße; die anderen befürchten Mißbrauchssituationen in einer Lage, in der man dem Arzt willenlos ausgeliefert ist. Und die dritten rücken, sobald die Adresse des Arztes bekannt wird, gleich in Gruppenstärke an: Das sind die Selbsthilfegruppen „Angst vorm Zahnarzt“. Besonders die letzte Gruppe wehrt Dr. Stöcker kategorisch ab: Die Hypnose kostet bei ihm kein Geld, dafür nimmt er sich heraus, ganz allein zu entscheiden, wann er dieses „Therapeutikum“ für indiziert hält.

Thomas Stöcker, der vor zehn Jahren die Hypnoseausbildung begann, wäre auch im Kino als Hypnotiseur eine Idealbesetzung: große dunkle Augen, kurzgehaltener Vollbart, ein Bär von einem Mann, einer, dem man abnimmt, was er sagt. „Ein Hypnotiseur darf in seinem Auftreten keinen Zweifel lassen, er muß voll hinter jeder Suggestion stehen.“

Auch seine Praxis ist bis in den letzten Winkel „suggestiv“ durchgeplant. Grünbrauner Plüsch wächst bis zur Decke hoch, die mit grünem Wildleder abgehängt ist. Eine „Kuschelpraxis“ zum Angstabbau. „Bei dem widerlichen Handwerk, das ich betreiben muß, will ich es den Patienten wenigstens so angenehm wie möglich machen.“ Das Angenehmste aber ist: die Zahnbehandlung unter Hypnose.

Zur Anwendung kommt die Hypnose grundsätzlich in zwei Fällen: bei extremer Angst vor der Spritze versetzt der Zahnarzt den Patienten in eine leichte Trance, um dann spritzen und konventionell behandeln zu können. Im Falle der Anästhesie-Unverträglichkeit, bei Allergie zum Beispiel, arbeitet er mit einer sehr tiefen Hypnose. Braucht er im ersten Fall nur seine selbstentwickelte „Turboinduktionstechnik“ (fünf bis zehn Minuten), so kostet ihn die tiefe Trance eine halbe Stunde und einiges an Kraft.

Turbo geht so: Sphärische Klänge vom Recorder werden eingestellt. Stöcker leuchtet seinem Patienten mit einer hellen Lampe mehrmals kurz in die Augen („Desorientierung“). Wer die Augen schließt, ist auch schon weg. Soll's tiefer runter, arbeitet er mit „Armlevitation“: Die Hand „wird immer leichter“, schwebt, wird kalt und starr (dieselbe Starrheit, aufgrund derer Menschen im Varieté auf zwei Stuhlbeine gelegt werden können); in diesem Zustand kann Stöcker eine lange Nadel durch die Hand stechen, ohne daß es schmerzt oder blutet. Eine weitere Suggestion überträgt die Gefühllosigkeit auf den Mund – und dann kann gebohrt, geschliffen und gezogen werden. „Sie hören jetzt das Geräusch der Turbine. Das ist angenehm. Sie können sich freuen.“

„Weg“ ist man in der Tat nie ganz. Die Trance ist alles andere als ein Schlaf. Wenn der Patient „auftaucht“, kann er alles berichten, allerdings nur so, wie es suggeriert wurde. „Es war angenehm, sehr schön, ich fühle mich erfrischt,“ sagen die Patienten hinterher. Zum Spaß kann man ihnen auch Wasser als Wein verkaufen (sie werden betrunken) oder Rasierschaum als Sahne („lecker!“).

Weil man nie ganz „weg“ ist, ist man auch nie ganz ausgeliefert. Unlogische Suggestionen führen zum Abbruch der Trance; und nie, so betonen alle Hypnotiseure, mache der Hypnotisierte etwas gegen seinen Willen. Daß hier trotzdem ein Problem gesehen wird, beweist ein intern gehandelter, reichlich geschmackloser Spruch zum Thema Mißbrauch einer Patientin: „Erstens ist es nicht schön. Zweitens hätte sie es auch ohne Hypnose gemacht.“

Zur Beruhigung zeichnet Stöcker gern die Behandlung mit Video auf. Womöglich wird einem beim Ansehen dann schlecht.

Burkhard Straßmann