Serielle Emanzipation

Welcome Eunice, the first female serial killer! „Butterfly Kiss“ von Michael Winterbottom wütet durch Tankstellen und den Wettbewerb  ■ Von Anja Seeliger

Eunice benimmt sich wie eine Irre. Auf der Suche nach einer gewissen Judith klappert sie Autobahntankstellen ab und belästigt die Kassiererinnen, denen sie unterstellt, Judith zu sein. Es ist nicht schwer, Eunice unsympathisch zu finden — sie sieht Rod Stewart so ähnlich, wie es einer Frau möglich ist. Nach einem dieser Tankstellenbesuche liegt die Kassiererin tot am Boden, mit einem Loch im Kopf. Man kennt das. Sie wird nicht die einzige bleiben. Da haben wir also den Salat. Darf ich vorstellen: The first female serial killer.

Auf der Suche nach Judith gerät Eunice an die pummelige Kassiererin Miriam, die Eunices seltsames Betragen freundlich aufnimmt, und sie sogar zu sich nach Hause einlädt. Miriam lebt mit ihrer Mutter zusammen. Sie ist schwerhörig und wurde noch nie geküßt. Ein Zustand, den Eunice nachdrücklich beendet. Obwohl Miriam etwas verschnupft auf die Existenz von Judith reagiert, sind die beiden bald zusammen unterwegs. Wenn Eunice nicht gerade harmlosen Menschen den Hals durchschneidet, unterhält sie Miriam mit Geschichten aus der Bibel. Eunice tötet nicht nur, sie fügt sich auch selbst Schmerzen zu. „Ich verdiene Schmerzen. Ich bin schlecht“, sagt sie einmal. Doch scheinen ihre eigenen Schmerzen sie so wenig zu beeindrucken, wie die anderer Menschen.

Regisseur Michael Winterbottom bemüht sich redlich, eine Erklärung für Eunices Verhalten zu finden. „Gott hat mich vergessen. Ich töte Menschen, aber ihm ist es egal. Er tut nichts dagegen, er sieht mich überhaupt nicht“, brüllt Eunice und unterstützt so eine These, die der Spiegel diese Woche veröffentlicht hat. Es ist ein plausibler und doch etwas schlapper Erklärungsversuch. Schlapp deshalb, weil Eunice nicht für Erklärungen taugt. Sie ist zu wenig real, um erklärt zu werden. Es will nicht so recht einleuchten, warum sie überhaupt existiert.

Tatsächlich spielen in der Realität weibliche Serienmörder überhaupt keine Rolle. Eunice verkörpert keine Tatsache, sondern eine Behauptung. Nach all den Filmen über männliche Serienmörder scheint Regisseur Michael Winterbottom den Frauen versichern zu wollen: „Das könnt ihr auch“.

Natürlich. Wenn Eunice auch noch ein wenig ausgedacht wirkt, so besteht doch kein Zweifel, daß die Wirklichkeit Mr. Winterbottoms Phantasie bald einholen wird, und er ob seiner mutigen und seherischen Gaben Lob und Anerkennung ernten wird. Bis dahin bleibt uns nur, Mr. Winterbottom für das in uns gesetzte Vertrauen zu danken.

Wie ihre wackeren männlichen Vorbilder ist auch Eunice nach einem Mord immer zu einem saftigen Sprüchlein aufgelegt. Daß herzliches Gelächter dennoch nicht so recht aufkommen mag, liegt ausschließlich an der braven Miriam. Die Handlung wird immer wieder unterbrochen durch s/w- Aufnahmen, in denen Miriam frontal dem Zuschauer, der sich unvermittelt in der Rolle des freundlichen Untersuchungsrichter wiederfindet, die ganze Geschichte erzählt. „Es ist sehr schlecht, einen Menschen zu töten“, sagt sie, und wenn man in ihre treuherzigen Augen sieht, begreift man, daß das nicht nur ehrlich gemeint, sondern auch empfunden ist. Nachdem ihr klar geworden ist, daß Eunice Menschen tötet, erklärt sie uns: „Wenn man jemanden liebt, muß man auch seine schlechten Seiten akzeptieren.“ Auch das meint sie ehrlich.

Miriam ist nicht beizukommen. Es ist keine „amour fou“, die sie mit Eunice verbindet. Sie ist eine mitleidige Masochistin mit reinem Herzen. Den einzigen Mord, den sie begeht, verübt sie mit der sanften Leidenschaft einer beleidigten Unschuld. Miriam ist ein Rätsel. Viel zu real für eine These.

„Butterfly Kiss“ von Michael Winterbottom. Mit Amanda Plummer, Saskia Reeves u. A., Groß Britannien 1994, 88 Min.