Ostdeutsche sind „nach außen durchlässiger“

■ Wissenschaftliche Untersuchung bestätigt Vorurteil: Ossis sind bescheiden und Wessis arrogant / Erste Untersuchung über Befindlichkeiten im Ost-West-Vergleich

Frankfurt/Main (taz) – „Die Ostdeutschen sind selbstkritischer, die Westdeutschen weniger selbstkritisch. Die Ostdeutschen leiden stärker, die Westdeutschen weniger an Selbstzweifeln. Oder: Die Ossis machen sich eher schlechter, als sie sind, die Wessis besser.“ Das ist das Resümee einer Untersuchung von Horst-Eberhard Richter vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt und von Elmar Brähler von der Universität Leipzig zur „deutschen Befindlichkeit im Ost- West-Vergleich“.

Im Auftrag der Universität Leipzig hatte das Meinungsforschungsinstitut USMA (Berlin) 1.022 ostdeutsche und 2.025 westdeutsche BürgerInnen zu ihrer sozialen Situation, zu gesellschaftlichen und politischen Einstellungen und zur „körperlichen Befindlichkeit“ befragt. Die Ergebnisse stellten die beiden Wissenschaftler gestern in Frankfurt vor. Fazit: „Der Mythos vom bescheidenen Ossi und vom arroganten Wessi hat sich in gewisser Weise bestätigt“, so Richter. Ein weiteres Resümee der beiden deutschen Professoren ist, daß die Ostdeutschen anscheinend offener sind für ihre „inneren Prozesse“ und „durchlässiger auch nach außen hin“ (O-Ton Richter) als die Westdeutschen. Das heißt: Ossis grübeln mehr, fühlen sich häufiger bedrückt und können schlechter verbergen, was tief in ihnen vorgehe. „Weicher“ seien die Ostdeutschen, sagt Richter – und „härter“ die Westler. Daß die Westdeutschen „lässiger“ auftreten und mehr zum „easy going“ neigen, während ihre Brüder und Schwestern im Osten sich als „angestrengter und disziplinierter“ einschätzten, sei kein Widerspruch. Das liege, so das Fazit von Richter, an den unterschiedlichen Sozialisationen in Ost und West.

Auch eine andere gewichtige Erkenntnis gewann der westdeutsche Richter aus der Meinungsumfrage. Weil das sogenannte easy going im Westen seit Jahren auf dem „Ego-Trip“ stattfände, würden sich Ostdeutsche von Westdeutschen gerade im Sozialverhalten signifikant unterscheiden. Ostdeutsche seien sozial offener als die Westdeutschen und „geselliger“. Sie würden sich auch viel mehr Sorgen um andere Menschen machen als die Wessis auf ihrem „isolationistischen Ego-Trip“.

Mit einem Vorurteil räumt die Studie aber tatsächlich auf: Ostdeutsche sind weniger anfällig für nationalistisches Gedankengut als Westdeutsche. „Deutschland den Deutschen!“, diese Parole der Rechtsradikalen fiel bei weit mehr west- als ostdeutschen BürgerInnen auf fruchtbaren Boden. Auch die im Westen weit verbreitete Meinung, daß man sich im Osten nur noch mit dem Stasi-Problem beschäftige und nicht bereit sei, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ist falsch. Sich mit der „Hitler-Zeit“ (Richter) zu beschäftigen, sei zwar für eine Mehrheit aller Deutschen wichtig – „allerdings ist diese Mehrheit auf östlicher Seite ausgeprägter“.

Das schlußendliche Fazit von Richter und Brähler: Es gebe eklatante Unterschiede in der Befindlichkeit von West- und Ostdeutschen. Zum wechselseitigen besseren Verstehen müßten daher Mißverständnisse und Klischees überprüft werden. Der eigentliche „Akt der Einigung“ bestehe in der „Akzeptanz dieser Unterschiede“. Die Ostdeutschen müßten ihre Selbstkritik reduzieren, die Wessis ihren verdrängten sozialen Sinn reaktivieren. Klaus-Peter Klingelschmitt